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Nicht alles düster für Afghanistan
Wiederaufbau erfordert auch regionale Kooperation
Nach dem angekündigten Rückzug der Soldaten zeichnen die Medien ein apokalyptisches Zukunftsszenario für Afghanistan. Alle scheinen nur auf die Entscheidungsschlacht zu warten, mit der die Taliban die Macht im ganzen Land übernehmen. Aber sind die Aussichten wirklich so düster?
Folgt man einer Analyse, die am 5. Mai auf der Nachrichtenwebseite Al-Jazeera veröffentlicht wurde, habe es »noch nie eine so große Chance auf Frieden« gegeben wie heute. Die Autoren, Analyst Mirwais Wakil und Universitätsprofessor Anthony Pahnke, argumentieren, dass weder die Taliban noch die afghanische Regierung die Stärke besäßen, den jeweils anderen zu unterwerfen. Von den Taliban zu erwarten sei »bestenfalls ein Guerilla-Aufstand ohne die Fähigkeit, das ganze Land zu erobern«. Den schätzungsweise 50 000 bis 60 000 Taliban-Kämpfern stünden rund 300 000 Soldaten der afghanischen Armee gegenüber, und diese würde weiter unterstützt durch USA und Nato.
Für ihre Ausreise erhalten die von der Bundeswehr beschäftigten afghanischen Ortskräfte offenbar weiterhin keine finanzielle Unterstützung. Auch an diesem Wochenende protestierten ehemalige Angestellte in Sichtweite des Bundeswehrcamps in Masar-e-Sharif bei Temperaturen um 40 Grad.
Auf nd-Nachfrage in der Regierungspressekonferenz erläuterten Sprecher*innen mehrerer Ministerien am Freitag das Verfahren. Man bemühe sich wenige Wochen vor dem endgültigen Abzug der Truppen um Flexibilität bei der Visa-Erteilung und der Ausgabe von Ersatzpapieren. Dazu würden Kontaktbüros in Masar-e-Sharif und Kabul zur Antragsstellung eingerichtet. »Das derzeitige Verfahren sieht vor, dass die individuelle Reise durch die Ortskräfte selbst getragen wird«, so eine Sprecherin des Innenministeriums. Umzugskosten werden, anders als bei Soldat*innen und Bundesbediensteten sonst nach dem Bundesumzugskostengesetz üblich, bei den afghanischen Ortskräften nicht erstattet. dal
Laut Wakil und Pahnke beweise die Gewalteskalation der vergangenen Monate lediglich, dass beide Seiten immer noch genug Feuerkraft besäßen und keine Seite die andere unterwerfen könne. »Was wir haben, ist eine Sackgasse, aber nicht eine ohne Hoffnung.« Für einen dauerhaften Frieden müssten sich die Interessen innerhalb und außerhalb des Landes angleichen »in Bezug auf langfristige Perspektiven«: für die Ausbeutung der Bodenschätze, für intra-regionale Infrastrukturvorhaben (z.B. die Erdgas-Pipeline TAPI, die Erdgas aus Turkmenistan nach Afghanistan, Pakistan und Indien bringen soll), für einen Waffenstillstand und für die Integration der Taliban ins politische System. Die Autoren setzen auf die wirtschaftliche Entwicklung als »Dreh- und Angelpunkt für einen dauerhaften Frieden«. Wirtschaftliche Abmachungen müssten deshalb »integraler Bestandteil der Friedensverhandlungen« sein. Denn wenn Geld auch in den Provinzen ankomme, hätten die jungen Männer eine Alternative zum Kämpfen und würden sich nicht den Taliban anschließen.
Dieser hoffnungsvollen Einschätzung will sich der Konfliktforscher Michael Daxner nicht anschließen. Er war oft in Afghanistan, zuletzt 2018, und lehrte an der Freien Universität Berlin. Gegenüber »nd« bezeichnet Daxner das von Mirwais Wakil und Anthony Pahnke gezeichnete Szenario als »Wunschdenken«. Er hält die Kampfkraft der afghanischen Armee zudem für »nicht so überragend«. Ein Truppenabzug hätte vielleicht um das Jahr 2010/11 Sinn gehabt, wenn man anschließend auf eine nachhaltige Entwicklungspolitik gesetzt hätte. Überhaupt sei bisher vergleichsweise wenig Geld in direkte Entwicklungsprojekte geflossen, allenfalls im Schul- und Gesundheitswesen habe es Erfolge gegeben. Ungleich stärker gefördert wurden Makrostrukturen und das Militär.
Ähnlich sieht das auch Afghanistan-Experte Conrad Schetter, der das Friedensforschungsinstitut BICC (Bonn International Center for Conversion) leitet. Das militärische Engagement in Afghanistan habe die Entwicklung und den Wiederaufbau des Landes ausgeblendet, sagte er dem »nd«. Der »Militärfetisch« habe beispielsweise die Diskussionen auf die Anzahl der Soldaten fokussiert, aber »was diese dort vor Ort eigentlich machen sollten, war nebensächlich«. Doch auch wenn er sich schon immer für einen Abzug der Soldaten stark gemacht habe, schreibt er ihnen eine symbolische Bedeutung zu: »Die Gewaltakteure hatten das Gefühl, dass die USA immer in der Lage waren einzugreifen.« Dies falle nun weg, daraus könne eine neue Gewaltdynamik resultieren, ähnlich wie nach dem Abzug der Roten Armee im Jahr 1989. Eine Machtübernahme durch die Taliban ist laut Schetter dabei noch »das kleinere Übel«; die größte Gefahr sieht er in einem unkontrollierbaren Ausbruch der Gewalt zwischen den verschiedenen Gruppen in Afghanistan, sodass das Land komplett zerfällt. Er schließt aber auch eine positive Wende nicht aus, mit einem »kalten, brüchigen Frieden«, dem dann jedoch Grundpfeiler einer Demokratie zum Opfer fielen: eine moderne Zivilgesellschaft, Menschenrechte, Meinungsfreiheit.
Bleibt die Frage, ob der Truppenabzug auch Möglichkeiten bietet für die Entwicklung des Landes. Glaubt man dem afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani, dann habe sein Land nun die Chance, alle Entscheidungen in die eigenen Hände zu nehmen. Mit diesem »Narrativ« werbe Ghani quasi bei seinem Volk, meint Ali Yawar Adili, Country Director des Afghanistan Analysts Network (AAN) in Kabul. Adili sieht jedoch bei den Taliban keine Kooperationsbereitschaft, die innerafghanischen Gespräche machten keine Fortschritte. Profit schlagen könnte Afghanistan eventuell aus seiner geopolitischen Lage als regionales Drehkreuz. Baupläne für Pipelines, Stromleitungen, Eisenbahn- und Autotrassen nach und durch Afghanistan liegen zuhauf in den Schubladen von Entwicklungsorganisationen und Regierungen. Letztlich basierten diese Mega-Projekte jedoch auch auf »regionaler Rivalität«, sagt Adili. Beispielsweise liegen die Tiefwasserhäfen Gwadar und Tschahbahar am Indischen Ozean keine 200 Kilometer voneinander entfernt, der erste in Pakistan, der andere im Iran; der erste entsteht mit chinesischer Hilfe, der zweite mit indischer.
Von solchen großen Infrastrukturprojekten für Afghanistan hält Konfliktforscher Michael Daxner ohnehin nicht viel: »Die müssen sie schützen und verteidigen. Jetzt sind nicht mal Überlandstraßen sicher befahrbar.« Allenfalls »kleinteilig« könne man intervenieren, in einzelnen Distrikten »mit guter Verwaltung«. Er zeichnet die Vision eines »afghanischen Marshall-Plans«, der Investitionen insbesondere in Bildung, Gesundheit und Landwirtschaft lenkt und »nicht nur Großprojekte« fördert. Voraussetzung dafür: Die Afghanen setzen sich zusammen mit allen »Big Playern« - Iran, Pakistan, Russland, Indien, China, USA, Nato, EU etc. - und entwickeln gemeinsam ein Entwicklungskonzept; gewichtige Akteure wie die USA müssten dann als Garantiemächte dafür haften.
Ob diese Vision Realität werden kann, hängt davon ab, ob sich die Akteure in der Region auf eine Zukunft für Afghanistan einigen können. Soviel ist zumindest sicher: »Keins der Nachbarländer hat Interesse an einer Taliban-Regierung«, sagt Elisa Giunchi, Expertin für Afghanistan und Pakistan an der Universität Mailand. Die Regierung in Islamabad fürchte die Destabilisierung Afghanistans, da dies die Belt and Road Initiative, Chinas Seidenstraßen-Projekt, gefährde; Pakistan spielt darin eine zentrale Rolle. Zudem stehe Pakistan im Wettbewerb mit dem Iran beim Zugang zum afghanischen Binnenmarkt und will keine »zu engen Bindungen zwischen Afghanistan und Indien«, so Giunchi gegenüber »nd«. Der afghanischen Regierung empfiehlt sie, sich nach dem US-Rückzug »einen neuen, möglichst potenten Sponsor« zu suchen - »China, Russland oder die Türkei« -, der die finanziellen Garantien für Entwicklungsprojekte übernehme. Auch Conrad Schetter spricht China eine potenziell zentrale Rolle in Afghanistan zu, sieht es sogar als möglichen »Game Changer«. Er erinnert daran, dass Afghanistan die Brücke bilde zwischen Zentral- und Südasien: »In zwei Tagen fahren sie mit dem Auto von Indien durch Afghanistan nach Usbekistan.«
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