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Das Gegenteil der Polio-Epidemie
Studien versuchen zu erklären, wie Kinder am Covid-Geschehen beteiligt sind, warum sie meist nur leicht erkranken und das Coronavirus seltener weitergeben
»Sind die Kinder Treiber der Corona-Pandemie?« Es war eine mediale Gespensterdebatte, die im Frühjahr angesichts hoher Inzidenzzahlen hochkochte und in dieser Frage kulminierte. Im Hintergrund waberte die Debatte, ob Schulen und Kitas öffnen dürfen oder schließen müssen. Für viele Eltern wäre dies eine Erleichterung gewesen, und Bildungspolitiker wollten ein möglicherweise verlorenes Schuljahr vermeiden.
Experten waren sich ausnahmeweise einig: Die Frage war falsch gestellt, da es generell nicht »den« Treiber der Pandemie gibt. Konsens ist schon lange eine Position, wie sie auch auf der Webseite des Bundesbildungsministeriums nachzulesen ist: »Kinder sind Teil der Pandemie, aber keine Treiber.« Oder anders formuliert: Auch die Kleinen können sich infizieren und sie können das Coronavirus weitergeben. Letztlich führte diese moderate Position zu der Politik, dass Schulen und Kitas geöffnet werden dürfen, aber nur vorsichtig mit geeigneten Schutzmaßnahmen und Teststrategien.
Im Zuge der Impfkampagnen und des zunehmenden Schutzes von Risikogruppen und Älteren rücken die Kinder nun wieder in den Vordergrund. Dass sie Teil der Pandemie sind, ist längst eine Binsenweisheit. Wichtig zu wissen ist aber, was das genau heißt.
Wie zu vielen Aspekten rund um Sars-CoV-2 gibt es auch dazu eine Reihe von Studien, die jeweils ein Schlaglicht auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit werfen. Gerade im Fachblatt »Science« erschienen ist die Untersuchung der Berliner Charité über die Viruslast bei allen Altersgruppen.
Ein Team unter Leitung des Virologen Christian Drosten nahm bei mehr als 25 000 Corona-Infizierten Abstriche und untersuchte mittels der PCR-Technologie die Anzahl der Erbgutkopien von Sars-CoV-2. Demnach war die Viruslast in allen Altersgruppen etwa gleich groß. Einen signifikanten Unterschied gab es lediglich bei den Jüngsten bis fünf Jahre. Allerdings könnten hier auch die geringere Tupfergröße bei Kindern oder die Art des Abstrichs – man verzichtet oft auf die unangenehmen tiefen Nasen-Rachen-Abstriche – eine Rolle spielen. »Die Rate von nicht optimalen Abstrichen ist größer, je kleiner die Kinder werden«, erläutert Drosten.
Vereinfacht gesagt, schleppen also Kinder und Jugendliche eine ähnliche Menge potenziell infektiöser Viren mit sich herum, nur bei den ganz Kleinen ist es vermutlich weniger. Gleichwohl stecken Eltern ihre Kinder deutlich häufiger an, als dies umgekehrt der Fall ist, wie Beobachtungsstudien aus aller Welt belegen. Eine Ursache könnte laut Forschern der TU Berlin und erneut der Charité im wichtigsten Transportvehikel von Sars-CoV-2 liegen: den Aerosolen, die beim Atmen ausgestoßen werden und in geschlossenen, ungelüfteten Räumen zu den gefürchteten Superspreadingevents führen können.
In der Studie wurden die Schwebeteilchen mittels Laserpartikelzähler in einem Reinraum bei acht- bis zehnjährigen Grundschülern, allesamt auch Mitglieder von Chören, gemessen. Danach bestimmte man Emissionsstärken bei Ruheatmung, Sprechen, Singen und Rufen und verglich sie mit den Werten von Erwachsenen. Ergebnis: »Kinder im Grundschulalter emittierten beim Sprechen eine Anzahl von Partikeln in der Größenordnung wie Erwachsene beim Atmen, und beim Singen emittierten sie ähnlich viele Partikel wie Erwachsene beim Sprechen«, so der Studienleiter, der Phoniater Dirk Mürbe.
Doch wie ist es umgekehrt – welchen Infektionsgefahren sind Kinder ausgesetzt? Das Nationale Gesundheitsinstitut der Niederlande errechnete, dass Kinder im Alter von 0 bis 17 Jahren landesweit nur 0,9 Prozent aller gemeldeten Covid-19-Patienten ausmachten, obwohl sie mehr als ein Fünftel der Bevölkerung stellen. Unter den Krankenhausaufenthalten sank ihre Quote weiter auf 0,6 Prozent. Solche Ergebnisse gibt es auch aus anderen Ländern.
Die Studie stammt aus der ersten Welle von 2020, als noch die oberitalienische Variante B.1 das Infektionsgeschehen in Europa bestimmte. Hat sich das mit der britischen Mutante B.1.1.7 geändert? In Deutschland ist in den vergangenen Monaten der Anteil der Kinder an den Inzidenzwerten gestiegen. Allerdings dürfte das darauf zurückzuführen sein, dass unter Kindern nun flächendeckend getestet wird und so nun auch viele asymptomatische Fälle entdeckt werden. Außerdem nimmt der Anteil der Kleinen am Infektionsgeschehen auch deshalb zu, weil immer mehr Erwachsense geimpft sind.
Eine wichtige Beobachtung ist außerdem, dass bei infizierten Kindern ein schwerer Verlauf von Covid-19 viel seltener ist als in anderen Altersgruppen. Aber es kommt eben doch vor – meist bei Kindern mit Vorerkrankungen wie Lungen-, Herz- und Stoffwechselerkrankungen, Diabetes oder Vorbelastungen wie starkem Übergewicht. Auch Fälle von Long-Covid sind schon aufgetreten.
Eine Besonderheit bei Kindern sind extreme Überreaktionen des Immunsystems: Seit Mai 2020 wurden in Deutschland 297 Kinder und Jugendliche gemeldet, die am Multisystemischen Entzündungssyndrom (PIMS) erkrankt sind, und etwa 200 Fälle des Kawasaki-Syndroms. PIMS geht meist mit hohem Fieber, Erbrechen und Durchfall einher, es kann zum Versagen mehrerer Organe und zu Schockzuständen kommen. Kawasaki ist eine Entzündung der Blutgefäße. Beides kann im schlimmsten Fall tödlich enden, ist aber medikamentös behandelbar.
Doch warum ist der Covid-Verlauf bei Kindern meist leicht? Forscher des Murdoch Children’s Research Institute der Kinderklinik im australischen Melbourne glauben, die Ursache gefunden zu haben. Sie analysierten Blutproben von Privathaushalten, bei denen es Coronafälle gab, während der akuten Phase der Infektion und bis zu zwei Monate danach. Ergebnis: Kinder haben eine robustere angeborene unspezifische Immunantwort auf das Virus als Erwachsene, wie Studienleiterin Melanie Neeland erläutert.
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Sie produzieren eher »Allrounder«-Antikörper, die alle möglichen Viren oder Bakterien bekämpfen können. »Kinder stecken sich weniger häufig mit dem Virus an, und bis zu einem Drittel sind asymptomatisch, im Gegensatz zu anderen Atemwegsviren, mit denen sich Kinder häufig infizieren und daran auch schwerer erkranken können«, so die Immunologin Neeland. Britische Forscher vermuten zudem, dass auch vorherige Infektionen mit harmlosen Coronaviren Kinder schützen können.
Wie dem auch sei: Sars-CoV-2 scheint die allererste Verteidigungslinie des Immunsystems schlecht durchbrechen zu können. Damit ist Corona quasi das Gegenteil der Polioviren, die vor allem bei Kindern zu sehr schweren Verläufen führen können. Übrigens waren sie auch damals nicht Treiber, sondern Opfer der Epidemie.
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