Marxistische Wegsuche in widersprüchlichen Verhältnissen

Der Philosoph Wolfgang F. Haug spürt in seiner jüngsten Publikation »Vorschule zur Philosophie der Praxis« einem praktischen Sozialismus nach

  • Jürgen Stahl
  • Lesedauer: 8 Min.

Die erste geistige Begegnung mit Wolfgang Fritz Haug hatte ich 1980 während meines Studiums in Jena, in einem Oberseminar, das sich mit der Geschichte marxistischen Denkens befasste. Zum angesetzten Lesestoff gehörte die Lektüre von Texten des »Projekts Ideologietheorie« (1979) - interessant in ihrem Herangehen an soziale Bewegungen, im verarbeiteten Faktenreichtum, in der Argumentationsweise. Wir lernten hier, Ideologie auf eine neue Weise zu sehen. Für die Folgejahre ist mir eine weitere Auseinandersetzung mit der Literatur aus dem Kontext jener Projektgruppe in Westberlin nicht erinnerlich, dafür erschien 1983 ein Artikel des DDR-Philosophen Manfred Buhr. Darin konnte man lesen, dass Wolfgang F. Haug dem »ideologischen Sumpf« einer »ideologietreibenden Gironde« oder schlicht dem antikommunistisch-antisowjetischen Lager zugehörig sei. Nun, das erklärte, warum Haugs Bücher »bei uns« in der DDR nicht publiziert wurden.

Orientierung im marxistischen Labyrinth

Anfang des Jahres 1990 las ich mit freudigem Erstaunen, was gerade in der Arbeitsgruppe »Grundlagen für einen modernen Sozialismus« an der Humboldt-Universität bezüglich erforderlicher Änderungen zur politischen, ökonomischen und rechtlichen Verfasstheit der DDR bedacht wurde. Da fiel mir das neuste Heft der Zeitschrift »Das Argument« in die Hände. In dieser las ich - eben in einem Text von Haug - über eine Auseinandersetzung mit den ökonomischen Konzepten eines modernen »Markt-Sozialismus«. Es fand sich hier die knappe Feststellung, dass es bei Marx auch »Fehlstellen« und »illusionäre« Aussagen gebe, auf die man sich folglich nicht berufen könne. Stattdessen seien hier eigene Anstrengungen erforderlich, und zwar praktische wie theoretische. Dem Philosophieprofessor Haug von der Freien Universität Berlin ging es dabei nicht um Besserwisserei, sondern um »Mitsprache bei der Suche und zur Anknüpfung einer Diskussion.«

Zum Ende der 1990er Jahre wurde ich von einem Freund gefragt, ob ich nicht bereit sei, für das von Haug herausgegebene »Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus« dieses oder jenes Stichwort zu bearbeiten. Bei meinen Zuarbeiten zeigte sich schnell: Hier wurde in vielerlei Hinsicht anders gearbeitet, als ich es gewohnt war. Marx, Engels, Lenin waren keineswegs sakrosankte Autoren, sondern historisch-kritisch zu nehmen. Es galt, die daraus entspringende Auseinandersetzung im »Labyrinth« marxistischen Wissens nachzuzeichnen, in seinen verschiedenen Linien und seinen Übergängen zum »bürgerlichen« Denken. Nicht nur die zu analysierende Literatur war in der wahrzunehmenden Breite vielfach neu für mich, sondern mehr noch die Herangehensweise: nämlich aufzuzeigen, unter welchen Voraussetzungen sich die Standpunkte im marxistisch geprägten Diskurs entwickelten, wie Positionen aufeinander reagierten, über sich hinausgingen, sich ausschlossen und an anderer Stelle wieder aufeinander bezogen oder auch stecken blieben - das Wörterbuch als »Arche Noah« dieser »menschheitlichen Schätze aufklärerischen Wissens«, wie es in den »Materialien zum Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus« heißt.

Nun liegt von Wolfang Fritz Haug das Buch »Vorschule zur Philosophie der Praxis« vor, Band 22 der »Berliner Beiträge zur kritischen Theorie«. Hier kann man den Weg, den Haug in seiner Theoriebildung vollzog, in seinen wesentlichen Stationen lesend nacherleben. Die chronologisch erste Ebene widmet sich dem italienischen Philosophen Antonio Labriola, der im 19. Jahrhundert »den Quellcode des Marx’schen Geschichtsmaterialismus als Philosophie der Praxis« begriff. Haug zeigt auf, wie dieser von den Theoretikern der Kommunistischen Internationale um Kautsky zugunsten des prämarxistischen philosophischen Materialismus verdrängt wurde. Labriola geißelte die »Doktrinäre aller Spielarten, (…) die Hersteller von klassischen Systemen, gut für alle Ewigkeit«: eine Linie, die sich über Plechanow, Lenin und Stalin weiter in den Marxismus-Leninismus zog. Folglich beschäftigt sich ein wesentlicher Teil von Haugs Text mit der materialistischen Erkenntnistheorie, dem Konzept Widerspiegelung, mit den Auffassungen zu materialistischer Dialektik und »Kapitallogik« bis hin zu den »ideologischen Verhältnissen« der DDR-Philosophie.

Öffentliche Debatte statt Dogma

Im Wortsinn umstrittene Vorträge und Aufsätze dokumentieren in der »Vorschule« die Auseinandersetzung mit der westdeutschen linken Theoriebildung um das Institut für Marxistische Studien und Forschungen in Frankfurt am Main (IMSF) sowie mit dem in der in der DDR gepflegten Marxismus-Leninismus. Auf diese Weise lässt sich der Prozess einer »öffentlich-kontroversen Erkenntnisentwicklung« nachverfolgen. Ins Stammbuch marxistischer Theorie gehört folgender Gedanke Haugs: »Wissenschaftliche Erkenntnis in ihrer Parteilichkeit gehorcht nicht derselben Logik wie etwa der Eintritt in eine Partei.« Erstere hat nichts mit Parteidisziplin zu tun - in ihr geht es um den »Wahrheitswert einer Theorie«! Umgekehrt hat eine Partei, die sich auf den Boden des wissenschaftlichen Sozialismus beruft, eben diese Gesetzmäßigkeiten anzuerkennen und institutionelle Vorkehrungen für eine »ungehemmte Entfaltung wissenschaftlicher Erkenntnis« zu gewährleisten.

Haug bezieht sich unter anderem auf die Bibel, unter Rückgriff auf Hegels »Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte«: Theoretiker der wirklichen Geschichte zu sein, bedeute, etwas nicht deshalb auszulassen, weil es einem nicht in den politischen respektive theoretischen Kram passt. Anders gesagt: Es heißt lernbereit zu bleiben und den suchenden theoretischen Ansätzen Türen zu öffnen, um dadurch wiederum mögliche, gar notwendige Irrtümer zu Grabe zu tragen, anstatt dass die Bewegung selbst an diesen Irrtümern zugrunde geht. Deshalb rufen die Erwägungen Haugs wider einer »Verkirchlichung des Sozialismus« eben nicht nur zuweilen peinliche Erinnerungen an die politischen Dogmen der DDR wach. Sie bestärken vielmehr die Notwendigkeit einer Materialismus-Auffassung, in der »nicht nur die Zukunftsfähigkeit im Irgendwann, sondern die je aktuelle Gegenwartsfähigkeit des Denkens und Handelns im Anschluss an Marx gründet«.

Entscheidend für Haugs Philosophieverständnis und Arbeitsweise war die deutsche Gesamtausgabe der Gefängnishefte von Antonio Gramsci in den Jahren 1991 bis 2002. In den begleitenden Forschungen hierzu stieß Haug auf wiederum auf Labriola, der die bei Marx implizite »Philosophie der Praxis« explizierte (siehe Labriolas »Drei Versuche zur materialistischen Geschichtsauffassung«, 2018 bei Karl Dietz erschienen). Diese wurde für den Gefangenen Gramsci zum Kompass in seiner theoretischen Neugründung des Denkens in der Marx’schen Tradition. Gramscis »Gefängnisbriefe« erscheinen als Material, das in der Auseinandersetzung den Weg durch eine neue Wirklichkeit sucht, seinerzeit die des italienischen Faschismus.

Außerordentlich interessant sind für mich auch die Ausführungen zur Ausweitung des Philologischen, um die Kluft zwischen den »Intellektuellen« und dem »Volk« zu überbrücken, die Haug anhand von Gramsci vornimmt. Hier geht es um das - immer noch aktuelle - Phänomen, dass Politiker und Theoretiker nicht mit den »einfachen Leuten« und ihren »Leidenschaften« fühlen. Die praktische Botschaft ist dabei, dass emanzipatorische Politik ohne eine »Mitleidenschaftlichkeit« der Menschen keine dauerhaften Wurzeln zu schlagen vermag.

Der Beschäftigung der westeuropäischen Linken mit Gramsci vorausgegangen war in den 1970er Jahren eine Kooperation mit der »kritischen Psychologie«, aus dem sich das »Projekt Ideologietheorie« entwickelt hatte. Diese Zusammenarbeit wurde politisch überschattet von dem durch die SED, DKP und der SEW initiierten Verdikt über Haug als zugehörig zum »intellektuellen Lumpenproletariat«. Im Kampf um sein, wie er heute schreibt, »politisch-intellektuelles Überleben« antwortete Haug darauf 1985/86 mit programmatischen Bänden zum »Pluralen Marxismus«, in denen sich bereits die existenzielle Krise des europäischen Staatssozialismus abzeichnete.

Ein weiteres Ergebnis der Diskussion mit der kritischen Psychologie war die Gewinnung des Begriffs der »Handlungsfähigkeit« entwickelt durch das Psychologenpaar Ute Holzkamp-Osterkamp und Klaus Holzkamp an der FU Berlin. Demnach gilt Marx’ Satz von der Arbeit als »erstem Lebensbedürfnis« nur insoweit, wie sie »dem Einzelnen die Teilhabe an der Verfügung über gesellschaftliche Prozesse erlaubt«, das Individuum also »handlungsfähig« werden lässt. Nicht Arbeit schlechthin, sondern Handlungsfähigkeit stellt die »allgemeinste Rahmenqualität« eines »menschenwürdigen« Daseins dar. Handlungsunfähigkeit wiederum erscheint folglich als allgemeinste Qualität »menschlichen Elends der Ausgeliefertheit an die Verhältnisse«.

Eben diese Handlungsunfähigkeit analysiert Haug am Beispiel der KPdSU respektive Sowjetunion, ausgehend von Michail Gorbatschows »Perestroika-Rede« am 27. Januar 1987: Indem das »Prinzip des Zentralismus« über das »Prinzip der Demokratie« herrsche, habe sich aus der »Übermacht« des Apparates als komplementäres Gegenstück eine passivierende »innergesellschaftliche Handlungsunfähigkeit« entwickelt, der Gorbatschow mit dem Projekt der »Umgestaltung« zu begegnen trachtete. Dass dieses Projekt einer »alle Ebenen des Gesellschaftlichen umfassenden Transformation« scheiterte, habe in der spezifischen Handlungsunfähigkeit Gorbatschows ebenso begründet gelegen wie »im zerrütteten Zustand der spätsowjetischen Verhältnisse«, so Haug. Dass hieraus die Analyse des »Staatssozialismus als Blockade von Subjektivität« hervorgeht, war und ist - auch unter Hinweis auf die Transformation in China - folgerichtig.

Zukunftsfähigkeit kritischer Theorie

Haug nimmt Stellung zur Aktualität des sich auf Marx beziehenden Denkens und verortet dabei den »Neuanfang« nach der Niederlage des Staatssozialismus ausdrücklich in der Editionsarbeit an Gramscis Gefängnisheften. Und hier fehlt natürlich auch Bertolt Brecht als marxistischer Künstler nicht. Anhand von Brecht entwickelt Haug die Problematik des »axiomatischen Feldes« im Marx’schen Denken, in dem beispielsweise zwei Annahmen einer Ergänzung bedürften: Der »kategorische Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes Wesen ist« sowie der das »positive Engagement« des Kommunistischen Manifests markierende Satz, wonach »die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist«.

Damit kommt Haug zurück auf die drei Kritikstränge bei Marx: Kritik der Theorie des Kapitals, Ideologiekritik und Kritik des Objektivismus. Er wendet sich einer »praktischen Dialektik« zu, in der sich »Beweglichkeit und Weisheit verbinden«. Mit Brecht und Peter Weiss formuliert er (s)ein Credo: »Gelingt es, aktuelle Kontroversen zu führen, hindert man die Unterschiede daran, sich in Gegensätze zu verwandeln, und Gegner zu Feinden zu werden.« Letztlich ist die »Vorschule zur Philosophie der Praxis« weit mehr als eine geschichtliche Darstellung. Es ist ein theoretisches Vermächtnis, dem es um die Zukunftsfähigkeit historisch-kritischer Theorie und sozialistischer Praxis geht. Der Charakter der »Wegsuche in widersprüchlichen Verhältnissen« am »Kreuzpunkt der sozialen und der ökologischen Fragen unserer Gegenwart« machen das aktuelle Buch des marxistischen Philosophen Haug so lesenswert.

Wolfgang Fritz Haug: Vorschule zur Philosophie der Praxis. Berliner Beiträge zur kritischen Theorie, Band 22. Argument-Verlag, 445 S., br., 28 €.

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