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Jenseits von Mutter, Vater, Kind

In den Hamburger Deichtorhallen ist eine fotografische Bestandsaufnahme des Familienbildes zu sehen

Es dürfte historisch betrachtet kaum eine Periode gegeben haben, in der sich das Bild der Institution Familie in so kurzer Zeit so radikal gewandelt hat wie in der Gegenwart. In der Geschichte war der Familienverband stets etwas Ehernes; er bedeutete Halt und Absicherung, manchmal auch Fluch und Bedrängnis. Nur entweichen konnte ihm das Individuum kaum, auch weil Familie allzu oft eine Notgemeinschaft war, deren Zusammenhalt in wirtschaftlich oder politisch schwierigen Zeiten - also eigentlich meistens - überlebenswichtig war. Erst der moderne Kapitalismus mit seinen ungeheuren Wohlstandszuwächsen (deren zerstörerische Seite hier mal unbeachtet bleiben soll) und Individualisierungsprozessen hat es ermöglicht - oder zu verschulden, je nach Sichtweise -, dass sich traditionelle Bindungen zunehmend auflösen und die Familie als Keimzelle der Gesellschaft an Bedeutung verliert.

Die heteronormative Kleinfamilie ist längst nicht mehr das Maß der Dinge, die Lebensstile und -entwürfe sind heute verwirrend vielfältig. Die identitätspolitischen Debatten der letzten Jahrzehnte haben ihr Übriges dazu beigetragen, dass der Familienbegriff heute dramatisch erweitert ist. Zwar haben wir alle nach wie vor Familie, bedeutet diese für uns Geborgenheit, unbedingte Liebe, Verantwortung oder auch große Belastung - aber wie man Familie für sich definiert, wo die eine anfängt, die andere aufhört, wird permanent neu ausgehandelt und ist zunehmend eine Frage der persönlichen Definition. Der Begriff Patchwork hat sich lange etabliert, hinzu kommen heute die Regenbogenfamilien aus der LGBTQ-Ecke, unterstützt durch die neue Möglichkeit der Ehe für alle und den medizinischen Fortschritt auf dem Feld der künstlichen Befruchtung. Freundschaften ersetzen gerade in den großen Städten gar nicht so selten die Familie. Auch Bindungsunwilligkeit oder die stark steigende Zahl der Alleinlebenden sind letztlich eine Kehrseite des traditionellen Familienbildes.

Das alles findet seinen Niederschlag selbstverständlich in der Kunst und der Fotografie. Familie in ihren verschiedensten Konstellationen zu porträtieren, dürfte die mit Abstand häufigste Übung der angewandten Fotografie sein, in ihrer Anfangszeit war dies ihr genuiner Daseinszweck. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gehörte das Familienporträt zur kulturellen Grundausstattung des Bürgertums. Seit die Fotografie zur Kunstform avancierte, wird dieses Sujet der bildenden Kunst auch durch die lichtbildnerische Auseinandersetzung mit der Familie erweitert.

Die Hamburger Deichtorhallen mit ihrem Kurator Ingo Taubhorn versuchen nun in der Ausstellung »Family Affairs« eine Bestandsaufnahme des Familienbildes in der zeitgenössischen Fotografie. Der Zeitpunkt ist (unabsichtlich) geschickt gewählt, denn durch die globale Pandemie hat sich der Diskurs verändert und Familie gewinnt plötzlich neu an Bedeutung, was dem oben erwähnten notwendigen Zusammenhalt in schwierigen Zeiten entspräche. Begleitet von einem voluminösem Katalog entwerfen 23 Fotografinnen und Fotografen ihr ganz eigenes Bild von Familie und deren Angelegenheiten.

Ein Verdienst der Ausstellung ist es, den eigenen westlich geprägten Horizont erheblich zu erweitern und eine globale Perspektive einzunehmen. Das macht die Ausstellung zum Teil zu einer regelrecht ethnografischen Studie und stellt gleichzeitig die Frage nach den sozialen Bedingungen von Familie in anderen Teilen der Welt.

So reiste der amerikanische Fotograf Neil DaCosta nach Äthiopien in den Omo-Nationalpark, um klassische Familienporträts der Indigenen zu inszenieren. Der Titel der Serie »Last Family Portrait« verweist auf den Druck, unter dem die Lebensweise der indigenen Stämme durch Landraub, Vertreibung und Ressourcenverknappung steht.

Nora Bibels Serie »Family Comes First« porträtiert ebenfalls Großfamilien, im indischen Bangalore. Die deutsche Fotografin komponiert ihre Motive sorgfältig, sodass ihre Porträts Familienaufstellungen gleichen, mitsamt der für den außenstehenden Betrachter unergründlichen Hierarchie innerhalb des Familienverbands. Dass sie die Bilder in den Wohnräumen der jeweiligen Familien inszeniert, erlaubt gleichzeitig einen Einblick in die Wohnträume der indischen Mittelschicht.

Erwähnt sei ebenfalls Eric Gyamfis Projekt »Just Like Us«, in dem er die queere Community in seiner Heimat Ghana zeigt. Seine alltäglich wirkenden Bilder aus der Szene erinnern an die Insider-Beobachtungen Nan Goldins aus den 80ern und gewinnen ihre Brisanz erst durch das Wissen darum, dass queeres Leben in vielen afrikanischen Ländern nach wie vor verfolgt wird.

Das Konstrukt Familie ist nicht nur zum Gegenstand emanzipatorischer Diskurse geworden, sondern auch innerhalb der »klassischen« Familie vollziehen sich Umbrüche und werden Rollenmuster neu verhandelt. Augenscheinlich ist das in der sich verändernden Stellung der Väter, die immer seltener alleinige Ernährer der Familie sind und nicht mehr dem tradierten Bild des autoritären Erzeugers entsprechen wollen. In der (Kunst-)Geschichte der Bilder findet sich das Sujet der innigen und liebevollen Fürsorge des Vaters selten, wie der Leser im Katalog angesichts von Grégoire Korganows Arbeit »Väter und Söhne« erfährt. Vielleicht berühren die nackt vor neutralem Hintergrund aufgenommenen Porträts deshalb den Betrachter so sehr. In symbolhaften Posen zeigen die Vater-Sohn-Paare unterschiedlichsten Alters vertraute Gesten und innige Nähe, etwas, das bisher vornehmlich den Müttern vorbehalten war.

Die Ostkreuz-Fotografin Linn Schröder wiederum inszeniert ihre Familiengeschichte als Endlosfilm mit einem Anfang - der Geburt ihrer Zwillinge - und offenem Ende. Ihre schwarz-weißen Bilder erzählen unterschiedliche Episoden aus dem Familienalltag mit einem ebenso poetischen wie geheimnisvollen Unterton. Dabei weisen sie weit über das persönliche Erleben hinaus und erlangen in ihrer Gesamtheit - ihr Künstlerbuch »Ich denke auch Familienbilder« ist begleitend zur Ausstellung erschienen - universelle Gültigkeit.

»Family Affairs« bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für einen avancierten Diskurs, und es gäbe noch viele andere Arbeiten, die es wert wären, genannt zu werden: etwa Elinor Caruccis schonungslose Selbstbetrachtung als alternde Frau in der Menopause oder Gustavo Germanos Serie »Ausencias« (Abwesenheiten), in welcher der argentinische Fotograf die schmerzhaften Leerstellen untersucht, die die während der Militärdiktatur Verschwundenen in ihren Familien hinterließen.

Das Verdienst der Ausstellung ist es, verschiedenste Herangehensweisen, von privaten, intimen Momenten bis zu dezidiert politischen Aussagen, zu einem Maßstäbe setzenden Überblick über das Familienbild in der Gegenwartsfotografie zusammengesetzt zu haben - und es ist tragisch, dass durch Corona die Laufzeit der Ausstellung arg verkürzt ist.

»Family Affairs. Familie in der aktuellen Fotografie« in den Deichtorhallen Hamburg bis 4. Juli;

Begleitbuch zur Ausstellung: Family Affairs. Kehrer, 304 S., geb., 49,90 €;

Linn Schröder: Ich denke auch Familienbilder. Hartmann books, 116 S., geb., 45 €.

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