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Magie der Verwandlung
Berlinale Wettbewerb: »Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?« von Alexandre Koberidze
Dies ist ein Film über die Liebe, aber ein ungewöhnlicher. Er fordert uns viel Geduld ab. Zweieinhalb Stunden suchen sich zwei, die sich gefunden und dann wieder verloren haben. Sie erkennen sich einen Augenblick lang, und dann sind sie sich wieder fremd.
Dieses Nicht-mehr-Erkennen hat handfeste Gründe. Denn der Abschlussfilm des gebürtigen Georgiers Alexandre Koberidze an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (der es gleich in den Berlinale-Wettbewerb schaffte) handelt von der weißen wie von der schwarzen Magie. Die erste kann uns die Augen öffnen und die zweite - ohne einen plausiblen Grund - sie wieder verschließen. Darum geht es in dieser deutsch-georgischen Koproduktion.
Koberidze nimmt sich viel Zeit für seine Bilderströme, die nicht einer handlungsoptimierenden Dramaturgie folgen, sondern ziellos vor sich hin zu mäandrieren scheinen. Entweder folgt man ihrer - surreal verschlungenen - Eigenlogik oder man ist nach fünf Minuten schon wieder draußen. Denn es ist ein Märchen, aber die Logik der Rettung, die auf ein gutes Ende hinarbeitet, bleibt lange verborgen. Ober bleibt sie ganz aus?
Ob Koberidze die für das Medium Film nötige Erzählökonomie aufbringt, darüber kann dieser Film keine Auskunft geben. In jedem Falle scheint er maßlos in seiner ausführlichen Langsamkeit, und das ist ein unbedingt sympathisches Statement gegen die grassierende Clip-Ästhetik. Koberidze teilt mit seinen großen georgischen Regievorgängern wie Tengis Abuladse (»Die Reue«) den Sinn für Symbol und Geheimnis. Aber er knüpft ganz offensichtlich auch an Nanni Morettis autobiografisch-essayistischen Regiestil an. Ein ständiger Wechsel zwischen Alltag und Mythos wie in Morettis »Liebes Tagebuch« (wo eine Fernsehsoap direkt zur Kernfrage der Odyssee führt) ist gewollt. Auch das Unterlaufen von Pathos wie in dessen »Wasserball und Kommunismus«, virtuos zwischen Melancholie und Rebellion pendelnd, kehrt hier wieder.
Eine Straßenszene in Kutaissi. Gleich zu Beginn stehen wir vor einer Schule mitsamt Eltern und Schülern. Von fern klingt das wie das Summen eines Bienenschwarms. Erst aus der Nähe werden einzelnen Stimmen vernehmbar. Geräusch steigert sich zu Lärm, dann erst versteht man, was gesagt wird, aber auch dies bleibt zufällig. Satzfetzen fliegen vorbei, aufgefangen von einem Vorübergehenden.
Solcherart Wahrnehmungsvariation wird für Koberidze entscheidend. Neben der Regie schrieb er auch das Buch und war für die »Montage« (also eigentlich den Schnitt) zuständig. Dieser Film spielt mit Nuancen, die über die An- oder Abwesenheit von Poesie im Alltag entscheiden. Aus dem Alltag erwächst eine mythische Kraft, Menschen zu verwandeln. Sie hat etwas mit der Landschaft wie auch der Geschichte Georgiens zu tun. Hier erstreckt sich die Kolchis-Ebene, aus der Medea kam, die zornige Fremde, die Rächerin des an ihr begangenen Verrats. Gleich nebenan in Batumi wuchs Stalin auf, der Despot.
In solcher geschichtsbedrängten Landschaft ist also nichts harmlos. Auch nicht die zufällige Begegnung zwischen der Medizinstudentin Lisa (Ani Karseladze) und dem Fußballer Giorgi (Giorgi Bochorishvili). Sie sehen sich auf der Straße und verlieben sich ineinander. Aber damit beginnt auch jenes Unheil, das das Märchen gewöhnlich für jene als Prüfung parat hat, die allzu schnell an das ihnen zugedachte Glück glauben wollen.
Lisa und Giorgi verabreden sich für den nächsten Tag in einem Café. Doch schon als Lisa nach Hause geht, hört sie Stimmen. Ein kleiner Setzling etwa, ein Abwasserrohr und sogar der Wind warnen sie vor einem Fluch. Interessant ist dabei die Beiläufigkeit, mit der Koberidze hiervon erzählt. Es ist wie zufällig gesehen und den Dingen abgelauscht. Die Perspektive des Flaneurs, der wie im Vorbeigehen und ohne eigene Ambitionen etwas wahrnimmt. Die Kamera zeigt häufig nur die Beine, die Füße und Schuhe der Passanten, die sich zu Paaren zusammenfinden und wieder trennen.
Der Fluch erfüllt sich auf eine ebenso banale wie grausame Weise. Lisa und Giorgi sind am kommenden Morgen, als sie erwachen, nicht mehr die, die sie eben noch waren. Lisa hat alles vergessen, was sie auf der Universität gelernt hat, und steht wie fremd in der Apotheke, in der sie arbeitet. Auch Giorgi, der Fußballer, beherrscht das Spiel, für das man ihn bewunderte, plötzlich nicht mehr. Zudem sehen sie, das zeigt ein erschrockener Blick in den Spiegel, auf einmal völlig anders aus. Jetzt wechseln auch die Schauspieler für Lisa (Oliko Barbakadze) und Giorgi (Giorgi Ambroladze). Nirgendwo werden sie mehr erkannt, sie gelten als Fremde. Am schlimmsten jedoch: Sie erkennen sich gegenseitig nicht mehr, obwohl sie nun beide beginnen, in jenem Café zu arbeiten, in dem sie sich treffen wollten.
Ist das als Handlung nicht etwas zu penetrant konstruiert? Dem entgegen steht jedoch der lapidare Erzählgestus, die erprobte Collage-Form. Nein, hier wird keine Parabel zelebriert, sondern die Auswirkungen einer inneren Erschütterung sind minutiös dokumentiert. Plötzlich ist man nicht mehr, der man war, und weiß nicht mehr, was man bis eben noch wusste. Dann bringt Koberidze auch noch etwas von Jean-Luc Godard ins Spiel; das Medium Film tritt selbst auf - denn vielleicht werden die beiden sich verloren glaubenden Liebenden ja durch den Film im Film wieder vereint?
Wie jedes Erstlingswerk eines begabten Menschen will »Was sehen wir, wenn wir in den Himmel schauen?« wohl zu viel auf einmal. In diesem rhapsodischen Zugleich einer Vielzahl von Realitätspartikeln, das gelegentlich seinen Rhythmus zu verlieren droht, erblicken wir dann aber doch etwas Vielversprechendes.
»Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?«: Deutschland/Georgien 2021. Regie und Buch: Alexandre Koberidze. Termine: 16.6., 21.45 Uhr: Freiluftkino Museumsinsel; 18.6., 21.45 Uhr, Frischluftkino@Studentendorf; 19.6., 21.45 Uhr, Arte-Sommerkino Schloss Charlottenburg.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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