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Im Schatten der Erinnerung

Noch immer verdrängt: Vor 80 Jahren begann der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Sowjetische Kriegsgefangene, die größte Opfergruppe dieses Vernichtungskrieges, sind in der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur bis heute kaum präsent - aber nicht ganz vergessen

  • Jonathan Welker
  • Lesedauer: 10 Min.

Am Morgen des 22. Juni 1941 brach die Hölle los. 3,3 Millionen deutsche Soldaten, 600 000 motorisierte Fahrzeuge und 3500 Panzer überschritten die Grenze zur Sowjetunion. Von der Ostsee bis zu den Karpaten marschierte die Wehrmacht ein und überrollte die kaum vorbereitete Rote Armee. Was folgte, war ein Vernichtungskrieg bisher ungekannten Ausmaßes. Im »Kampf zweier Weltanschauungen«, so der Jargon der Nazi-Ideologie, konnte es für die deutsche Führung nur das Ziel der Ausrottung des »jüdisch-bolschewistischen« Feindes geben. Mit aller Härte verfolgten Wehrmacht, Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD und SS dieses Ziel: Durch die gezielte Ermordung politischer Kommissare und von Jüdinnen*Juden in der Roten Armee, durch das geplante verhungern lassen von Millionen sowjetischen Zivilist*innen, später durch die Verschleppungen auf Reichsgebiet und den Zwang zur Sklavenarbeit für deutsche Betriebe. »Kriegsverbrechen waren in diesem Kriege nicht Grenzüberschreitungen, die erklärungsbedürftig sind, sondern das Gesicht dieses Krieges selbst«, fasst der Sozialwissenschaftler Jan Phillip Reemtsma den Charakter des Vernichtungskrieges treffend zusammen.

Die desolat aufgestellte und zudem von den stalinistischen »Säuberungen« um große Teile ihres Offizierskorps gebrachte Rote Armee konnte dem deutschen Überfall bis zum Wintereinbruch 1941 wenig entgegensetzen. Bereits im ersten halben Jahr des Krieges gerieten deshalb mehrere Millionen Rotarmist*innen in deutsche Gefangenschaft. Bis zum Ende des Krieges sollten es bis zu 5,7 Millionen Gefangene werden. Von diesen Menschen kamen unterschiedlichen Schätzungen zufolge bis zu 3,5 Millionen in deutschem Gewahrsam ums Leben. Eine schwer vorstellbare Zahl. Die Lebensbedingungen für diese sowjetischen Kriegsgefangenen waren dabei sowohl in den Durchgangslagern hinter der Front als auch während ihrer späteren Verschleppung nach Deutschland desaströs. Ein überlebender Rotarmist erinnerte sich in einem Zeitzeugenbericht: »Dort im Lager starben die kriegsgefangenen Soldaten hungrig und unter freiem Himmel. Sie wurden bei noch lebendigem Leibe auf Schubkarren angekarrt und in die Gräben geworfen. Da haben die Leute verstanden, wer die Deutschen sind. Da zeigten sie wirklich ihre Wesensart.«

Die Lager für sowjetische Gefangene

Die genannten Lager waren dabei anfangs kaum mehr als von Stacheldraht umzäunte Wiesen. Die Kriegsgefangenen gruben Erdlöcher, um sich vor der Witterung zu schützen, starben an Typhus und weiteren Krankheiten, Zehntausende verhungerten. Letzteres war dabei ein bewusst kalkulierter Teil der Kriegsführung. Wegen der geplanten Ernährung der deutschen Truppen und Bevölkerung aus den eroberten Gebieten würden »zweifellos zig Millionen Menschen verhungern«, hieß es in einem entsprechenden Vermerk des Oberkommandos der Wehrmacht lakonisch.

Auf besondere Weise waren die weiblichen Angehörigen der Roten Armee von diesen Verbrechen betroffen. Bis zu einer Million Rotarmistinnen dienten im Zweiten Weltkrieg, davon viele in Sanitäts- oder Kommunikationseinheiten, zahlreiche jedoch auch in bewaffnet kämpfenden Verbänden. Sie waren in hohem Maße Gewalt ausgesetzt, nicht zuletzt weil sie das männlich-patriarchale Kriegsbild der deutschen Truppen nachhaltig irritierten. Bewaffnete Frauen galten als widernatürlich und als Angriff auf die tradierte Geschlechterordnung. Erstaunen und Verachtung vereinten sich in der Bezeichnung als »Flintenweiber«. Entsprechend brutal war oftmals die körperliche und sexualisierte Gewalt gegen die Soldatinnen.

Die Verbrechen gegen die sowjetischen Kriegsgefangenen sind in ihren Ausmaßen und ihrer Brutalität schwer zu fassen. Das ist sicherlich auch ein Grund, warum sie im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung, aber auch in der etablierten Erinnerungskultur kaum verankert sind. Bereits 1991 hielten die beiden Historiker Reinhard Rürup und Peter Jahn fest: »Fragt man nun, wie die Deutschen seit 1945 mit diesem Erbe gelebt haben, (...) so stößt man in erster Linie auf unterschiedliche Verdrängungsleistungen«.

Fragt man Peter Jahn heute, sagt er: »Es hat sich schon einiges geändert. Das hat aber auch Jahrzehnte gedauert und wurde hart erkämpft«. Der pensionierte Leiter des Deutsch-Russischen Museums, der jahrzehntelang zum Thema geforscht, publiziert und Ausstellungen kuratiert hat, verweist im Gespräch mit »nd« auf die lange Geschichte der Aufarbeitung der Verbrechen. Um diese Geschichte weiß auch Sibylle Suchan-Floß, denn sie ist Teil von ihr. Seit über 15 Jahren arbeitet Suchan-Floß für den Verein Kontakte-Kontakty e. V., der sich in Deutschland für die Belange der überlebenden Kriegsgefangenen einsetzt. Die sowjetischen Kriegsgefangen hätten in der deutschen Erinnerungskultur kaum eine Rolle gespielt, erinnert sich Suchan-Floß im Gespräch mit »nd«: »Deshalb ging es uns zuerst darum, überhaupt ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass sie Opfer des Nationalsozialismus waren.«

Kein Bewusstsein für die Verbrechen

Doch es sollte Jahrzehnte dauern, bis sich dieses Bewusstsein allmählich durchsetzte. Das hatte mehrere Gründe. Zuallererst sei hier das politische Klima des Kalten Kriegs zu nennen, meint Suchan-Floß. Auch der heute 80-jährige Peter Jahn kennt die die Auswirkungen, die die politische Teilung Europas und der Welt auf die Erinnerungskultur hatte, aus eigener Erfahrung: »Ich bin im Kalten Krieg aufgewachsen, auf Westseite. Deshalb ist mir sehr klar, warum diese Opfergruppe so lange ignoriert wurde. ›Da hätten wir beinahe gewonnen‹, das war der Ton, in dem in den 1950er und 1960er Jahren über den Vernichtungskrieg gesprochen und geschrieben wurde«. Dies habe zur Folge gehabt, dass die Opfer des Nationalsozialismus in Osteuropa - auch die jüdischen - nicht wahrgenommen wurden. »Das ist zum Teil bis heute noch so«, ergänzt der Historiker.

Ausschlaggebend war weiterhin die Selbstviktimisierung der Deutschen nach dem Krieg. »Beim Thema Kriegsgefangene war die generelle Assoziation: ›Ja mein Opa hat da irgendwo dicht am Ural in einem Lager gesessen‹«, so Jahn. In einer solchen Selbstwahrnehmung war für andere Kriegsgefangene kein Platz, da konnten Millionen sowjetische Opfer nur stören. Auch Sybille Suchan-Floß berichtet von ihren Erfahrungen in zahlreichen Gesprächen mit den Nachfahren der Täter: »Es gibt da eine ungeheure Abwehrhaltung gegen die Anerkennung des Leids. Das liegt sicher auch an der familiären Tradierung. Die Kinder und Enkel der Täter können und wollen die Dimensionen der Schuld oft nicht eingestehen«, so die 69-Jährige. Dass die Verbrechen gegen die sowjetischen Kriegsgefangenen dabei in großen Teilen von der Wehrmacht und damit von Hunderttausenden einfachen Soldaten begangen wurden, macht sie zu Gesellschaftsverbrechen und erschwert eine Anerkennung bis heute.

Im öffentlichen Diskurs äußert sich diese Haltung vor allem in Versuchen der Relativierung durch die Gleichsetzung deutscher und sowjetischer Opfergruppen. Äußerungen des CDU-Bundestagsabgeordneten André Berghegger veranschaulichen diese Haltung: »Die menschenunwürdige Behandlung von Kriegsgefangenen war dabei nur eine von zahllosen Menschenrechtsverletzungen, die sich die Kriegsgegner gegenseitig zugefügt haben«, so Berghegger in einer Bundestagsdebatte 2016. Das gezielte Verwischen der Unterschiede zwischen Angreifenden und Verteidiger*innen ist eines der ältesten Argumentationsmuster im Bezug auf den Vernichtungskrieg und wird bis heute gerne genutzt. Historiker sprechen in diesem Zusammenhang von einer »Aufrechnungsmentalität«.

Ein dritter zentraler Grund für die andauernde Ignoranz war der in Westdeutschland prägende Antikommunismus. In Bezug auf die sowjetischen Kriegsgefangenen verband sich diese zentrale Ideologie des Kalten Krieges mit einem seit Jahrhunderten etablierten antislawischen Rassismus. In Teilen wirkt dieser Antikommunismus noch heute. Anschaulich wird dies an Äußerungen zur Gestaltung der Gedenkstätte des größten ehemaligen Kriegsgefangenenlagers auf Reichsgebiet. 2011 titelte der lokale CDU-Verband in Schloß-Holte Stukenbrock in Nordrhein-Westfalen aufgrund entsprechender Denkmalplanungen: »Die Rote Fahne - ein Symbol für stalinistische Verbrechen an der Menschheit, Unterdrückung, Willkür und Brutalität - auf dem Boden der Stadt Schloß Holte-Stukenbrock!?« Auch die Verknüpfung mit aktuellen politischen Konflikten mit Russland dient noch heute der deutschen Schuldabwehr. Die rechte Hardlinerin und langjährige CDU-Abgeordnete Erika Steinbach äußerte so 2016 im Bundestag: »Russland hätte, anstatt die Ukraine zu überfallen, lieber seine noch lebenden ehemaligen Kriegsgefangenen entschädigen sollen«.

Steinbach griff dabei auf perfide Art ein reales Problem auf: Auch in der Sowjetunion und ihren Folgestaaten war Kriegsgefangenschaft ein Tabu, die Überlebenden wurden lange nicht als Opfer anerkannt und gesellschaftlich marginalisiert. »Das war diese Stalin-Ideologie, nach dem Motto: ›Ein sowjetischer Soldat kämpft bis zum Tode und gibt sich nicht gefangen‹«, meint der Osteuropa-Historiker Jahn und fährt fort: »Aber soll ich als Deutscher ihnen das vorwerfen? Zunächst ist es einmal unser Problem, wir hätten entschädigen müssen.«

Gedenken in BRD und DDR

In der DDR gab es - geprägt von der Erinnerungspolitik der Sowjetunion - ähnliche Schwerpunkte beim Gedenken. Von zentraler Bedeutung war hier das Heldengedenken an die siegreiche Rote Armee, mit der man sich identifizierte. Damit einher ging eine Absage an die Thematisierung konkreter Verbrechen und der damit verknüpften Frage nach eigener Schuld. Das Ausbleiben einer kritischen Auseinandersetzung mit der (Mit-)Täterschaft einer Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung, nun pauschal als antifaschistisch deklariert, hatte eine Leerstelle zur Folge: Sowjetische Opfer als Verkörperung der an ihnen begangenen Verbrechen spielten kaum eine Rolle. »Für frühere Niederlagen, für Hilfslosigkeit und Tod im Gefangenenlager gab es im Grunde keinen eigenen Raum«, so der Historiker Andreas Hilger treffend.

Beide deutsche Staaten griffen also in gegensätzlicher Form auf das gemeinsame historische Erbe zurück. Die Historikerin Christina Morina spricht in diesem Zusammenhang von einer »verflochtene Abgrenzung« von der eigenen Geschichte. Das wird besonders deutlich, wenn man die beiden zentralen Verbrechenskomplexe und die jeweiligen Leerstellen betrachtet. Setzte sich in der BRD die Shoah als Fixpunkt des negativen Gedächtnisses durch, so war in der DDR der Vernichtungskrieg - in seiner sowjetisch beeinflussten Interpretation - zentral. Beide Interpretationen vernachlässigten die Opfergruppe der sowjetischen Kriegsgefangenen und beide wurden - und werden zum Teil auch heute noch nicht - den historischen Verbindungen zwischen beiden Komplexen gerecht.

Keine wirkliche Entschädigung

So unterschiedlich also der antifaschistische Siegerdiskurs in der DDR und der antikommunistisch geprägte Opferdiskurs der BRD im einzelnen waren, in einem zentralen Punkt ähnelten sie sich doch: Sowjetische Kriegsgefangene, nach den Jüdinnen*Juden die zahlenmäßig größte Opfergruppe des Nationalsozialismus, spielten kaum eine Rolle. Dass es trotz dieser Ausgangslage zu einer ansatzweisen Entschädigung kam und die ehemaligen Kriegsgefangen allmählich ins gesellschaftliche Bewusstsein rücken, ist Menschen wie Jahn und Suchan-Floß zu verdanken. Seit Jahrzehnten forschen und publizieren sie, korrespondieren mit Überlebenden, sammeln Spenden und suchen die Öffentlichkeit. Ihrem Druck und dem Einsatz einzelner Politiker*innen von Linkspartei und Grünen ist es zu verdanken, das 2015 eine geringfügige Geldzahlung an die wenigen Tausend noch lebenden Opfer ging.

Für die Zuwendungen wurde der bürokratische Begriff »Anerkennungszahlungen« gewählt - um die Formulierung »Entschädigung« zu vermeiden, die Rechtsansprüche weiterer Opfergruppen des Nationalsozialismus nach sich gezogen hätte. »Die Diskussion war beschämend. Welche Anstrengungen die Bundesregierung machte, um bloß nicht zahlen zu müssen, bloß nichts anzuerkennen«, erinnert sich Peter Jahn. »Man kann immer sagen: ›Besser als nichts‹. Aber gemessen an dem was kompensiert werden sollte, ist das ein Klacks gewesen. Da haben die deutschen Juristen die mieseste, perfekte Arbeit gemacht, um bloß nicht zahlen zu müssen.« Jahn verweist damit auf den Fakt, dass von den Millionen sowjetischer Kriegsgefangener, die das deutschen Morden, den Hunger und die Lager überlebten, nur 1767 Menschen und damit 0,00048 Prozent eine »Anerkennungszahlung« in Höhe von gerade einmal 2500 Euro erhalten haben.

Auf dem Weg zu einer Erinnerungskultur

Dennoch sind in der Erinnerungskultur Fortschritte nicht zu übersehen: Lokale Gedenkstätten an den Orten ehemaliger Kriegsgefangenlager professionalisieren sich zunehmend; nach langer Debatte und dem Einsatz zivilgesellschaftlicher Initiativen beschloss der Bundestag 2020 die Errichtung einer zentralen »Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte für die Opfer der NS-Besatzungsherrschaft« in Berlin. »Ich würde gerne in Berlin ein Denkmal sehen, das die Würde der Gefangenen darstellt und auf die Missetaten des Faschismus hinweist«, formulierte der ehemalige sowjetische Kriegsgefangene Boris Petrowitsch Schirokow einmal sein Anliegen. Ein Platz in dem geplanten Gedenkensemble ist den sowjetischen Kriegsgefangenen sicher und Schirokows Forderung damit zumindest zum Teil erfüllt. Welcher Platz dies ist und wie er, sowohl in der Memorialarchitektur als auch in der praktischen Vermittlungsarbeit, ins Verhältnis zum Gedenken an andere Opfergruppen und Verbrechen gesetzt wird, bleibt offen.

Peter Jahn ist skeptisch und befürchtet relativistische Tendenzen in der noch zu planenden Ausstellung: »Jetzt wird es der ganz große Brei. Im schlimmsten Fall stehen dort die 50 Dänen, die in deutscher KZ-Haft waren, gleichberechtigt neben den 5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen«. Er betont aber abschließend, dass man die konkrete Umsetzung abwarten müsse. Sibylle Suchan-Floß ist da optimistischer: »Wir haben schon die Hoffnung, dass das Dokumentationszentrum etwas bringt, dass es dadurch ein stärkeres Bewusstsein für die riesige Dimension der Verbrechen und des verursachten Leids gibt«. Suchan-Floß verweist dabei auch auf die Projekte des eigenen Vereins, der zukünftig Fortbildungen für Lehrer*innen zum Komplex des Vernichtungskrieges anbieten wird. Auch andere Institutionen wie die Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz und das Deutsch-Russische Museum widmen sich in jüngster Zeit mit Ausstellungen und Online-Formaten intensiver dem Thema.

Bereits 2005 schrieb der ehemalige sowjetische Kriegsgefangene Mykola Kyrolowitsch Fen: »Ich finde am wichtigsten, dass ich mich nach allem, was ich überlebt habe, nicht mehr als ›vergessener Mann‹ fühle«. Diesen Anspruch versuchen Sibylle Suchan-Floß, Peter Jahn und andere durch ihren Einsatz einzulösen. Klar ist aber auch: Der Erinnerungsschatten um die Opfer des Vernichtungskrieges hält sich beharrlich. Es bleibt noch viel zu tun.

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