- Politik
- 80 Jahre Überfall auf die Sowjetunion
Mörderische Pläne
Mit dem Einmarsch in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann ein staatsterroristischer Raubzug sondergleichen
Sonntag, 22. Juni 1941: In den Morgenstunden überfiel die deutsche Wehrmacht mit etwa drei Millionen Mann, 3600 Panzern, 7100 Geschützen und 2000 Flugzeugen die Sowjetunion, unterstützt von 600 000 Mann aus den verbündeten Staaten Ungarn, Rumänien, Finnland, Slowakei und Italien. Diese abenteuerliche Kriegsaktion brachte bis zu ihrem Ende 27 Millionen Sowjetbürgern und 2,7 Millionen deutschen Soldaten den Tod.
Der Überfall kam nur für wenige überraschend. Ein antirussisches Feindbild war stets zur Schau getragen worden, ebenso das Ziel, einen kontinental geschlossenen, von Deutschland beherrschten Großwirtschaftsraum fast bis zum Ural zu schaffen. Beides hatte Hitler in »Mein Kampf« angedeutet und am 3. Februar 1933 vor den Befehlshabern von Reichswehr und Reichsmarine eindeutig benannt: »Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung.« Letzteres schloss die Frage ein, wie mit einem großen Teil der dort Lebenden umgegangen werden sollte. Die faschistische Antwort: Vertreiben und vernichten. Als Feind war ausgemacht der »jüdisch-bolschewistische Untermensch«.
Eine Lizenz zum Töten
Eine Mitte der 30er Jahre erschienene Publikation der SS-Führung enthielt nichts anderes als eine rassistische Lizenz zum Töten von Menschen, deren Existenz als »entartet«, unnatürlich, wertlos und überflüssig angesehen wurde. In der Sprache des Herrenmenschentums, gerichtet vor allem gegen Polen, Russen, Ukrainer und Juden, hieß es: »Der Untermensch - jene biologisch scheinbar völlig gleichgeartete Naturschöpfung mit Händen, Füßen und einer Art von Gehirn, mit Augen und Mund, ist doch eine ganz andere, eine furchtbare Kreatur, ist nur ein Wurf zum Menschen hin, mit menschenähnlichen Gesichtszügen - geistig, seelisch jedoch tieferstehend als jedes Tier.«
Unmittelbar nach den militärischen Siegen über Polen, Frankreich und die Beneluxstaaten nahmen im Sommer 1940 - als die deutschen Faschisten im Zenit ihrer Macht standen, große Teile der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten jedoch nicht am Ende ihrer Gier nach weiterer Expansion - die Pläne für eine völlige »Neuordnung Europas« konkrete Gestalt an. Selbst ein Zweifrontenkrieg sollte in Kauf genommen werden, denn in den Vordergrund trat das eigentliche Kriegsziel: Auslöschung der UdSSR. Sich präventiv verteidigen zu müssen, wurde öffentlich propagiert, doch insgeheim notierten deutsche Generalstabsoffiziere, es lägen »keine Anzeichen für russische Aktivitäten uns gegenüber vor«. Zudem galt ihnen die Rote Armee als kaum ernst zu nehmender Gegner. Unter bedenkenlosem Bruch internationaler Verträge und Normen, dafür aber mit äußerster Akribie wurde der Überfall vorbereitet.
Der vor 80 Jahren entfesselte Krieg gegen die UdSSR resultierte aus einem Mixtum compositum interessengeleiteter Pläne expansionswilliger Großunternehmer, faschistischer Politiker und rassistischer Ideologen. In nationalistischer Selbstüberhebung hatten die deutschen Faschisten selbst in der Zeit der unmittelbaren Vorbereitung des Überfalls nicht einmal ansatzweise ein realitätsnahes Russland-Bild zugelassen. Gelegentliche Forderungen nach »zuverlässiger« Berichterstattung wurden abgeblockt. Was im »Dritten Reich« als sogenannte Sowjetforschung betrieben wurde, verbaute der Naziführung jeden einigermaßen realistischen Blick auf Russland. Hingegen wurden wirtschaftliche und geostrategische Ziele sowie die dafür als notwendig erachteten verbrecherischen Methoden eindeutig, klar und offen definiert. Zu Recht sprechen marxistische Historiker davon, dass es sich beim »Unternehmen Barbarossa« um die Zentralentscheidung des Zweiten Weltkriegs gehandelt hat.
Mit dem 22. Juni 1941 begann ein staatsterroristischer Raubzug sondergleichen. Beute- und koloniale Zukunftspläne entstanden in großer Zahl. Sie entsprachen jener Aussage Hitlers vom 16. Juli 1941, dass es darauf ankomme, den »riesenhaften Kuchen handgerecht zu zerlegen, damit wir ihn erstens beherrschen, zweitens verwalten und drittens ausbeuten können«. Im Kampf gegen Russland, so erklärte Goebbels im Sommer 1942, handele es sich um einen »Krieg für Getreide und Brot, für einen voll gedeckten Frühstücks-, Mittags- und Abendtisch, [...] um Gummi, um Eisen und Erze«. Zugleich bezweckte alles - über die materielle Absicherung der Kriegsführung hinaus - die als Gewinnung von »Lebensraum« getarnte Schaffung wirtschaftlicher und geostrategischer Grundlagen einer faschistischen Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent und einer deutschen Weltmachtstellung.
Beseitigen und vernichten
Weitere Befehle, Erlasse, Anordnungen etc. steigerten das Verbrecherische an Zielen und Mitteln in dem Maße, in dem zunächst große, später nur noch einzelne militärische Erfolge erzielt wurden. Schritt für Schritt eskalierte das faschistische Ermorden sowjetischer Kriegsgefangener und Zivilisten, ebenso der Genozid an einem großen Teil der europäischen Juden. Zugleich entstand ein »Generalplan Ost«, mit dessen Erarbeitung Himmler einige Ämter zwei Tage nach dem Überfall auf die Sowjetunion beauftragt hatte. Das enthüllende Dokument existiert in einer Reihe unterschiedlicher Ausarbeitungen für die deutsche Ent- und Besiedlungspolitik in den besetzten Gebieten.
In der Fassung vom September 1942, »Generalsiedlungsplan« genannt, war vorgesehen, dass rund zwölf Millionen Deutsche, sogenannte Volksdeutsche und einige skandinavische Arier in einem 330 000 Quadratkilometer umfassenden Gebiet mit über 360 000 landwirtschaftlichen Gütern angesiedelt werden. »Germanisiert« werden sollte das Land, eine »Eindeutschung« von Slawen wurde als unmöglich definiert. Während der nächsten zwei Jahrzehnte sollten im europäischen Teil der Sowjetunion 50 bis 60 Prozent der Russen »beseitigt« und weitere 15 bis 25 Prozent nach Sibirien vertrieben werden. Zudem sollten 25 Prozent der Ukrainer und Weißrussen »vernichtet« sowie 30 bis 40 Prozent der Ukrainer und 30 bis 50 Prozent der Weißrussen in den Osten »ausgewiesen« werden. Alles folgte dem Motto, mit dem SS-»Reichsführer« Heinrich Himmler am 22. November 1942 seine Rede vor SS- und Polizeiführern in Bad Toelz betitelte: »Heute Kolonie, morgen Siedlungsgebiet, übermorgen Reich!« So wahnwitzig diese Pläne gewesen sind - sie waren ernst gemeint.
Allerdings erwies sich der von Unkenntnis und Überheblichkeit getragene Spruch vom »Koloss auf tönernen Füßen«, der rasch zu besiegen sei, bereits im Herbst 1941 als brüchig. Dennoch sprachen NSDAP-Propagandisten nach wie vor vom »Rätsel Russland«, von den Russen als »Menschen von absolut animalischer Primitivität« und von »asiatischer Barbarei«. Das in Deutschland verbreitete Russland-Bild, das 1942 der großen Ausstellung mit dem Titel »Sowjetparadies« zugrunde lag, erschien in schwärzesten Farben. Im Verlauf des Krieges wurden die faschistisch-rassistischen Deutungsmuster weiter radikalisiert. In einem Schulungsmaterial der NSDAP hieß es, der Osten sei ein »Nährboden und Ausfallstor des Untermenschentums«. Dies schlug durch bis in jene nur Stammtischniveau ausweisende Unmenschlichkeit, die der Ausspruch eines Nazi-Kreisobmannes belegt: »Ich sehe jedenfalls ein unterernährtes rachitisches Russenkind lieber als ein gut genährtes gesundes, vollbusiges Russenweib.«
So bizarr und abstrus dieser russophobe Propagandakrieg auch gewesen sein mag, seine Inhalte drangen tief in die Köpfe vieler Deutscher, was nicht nur in den damals gern veröffentlichten Feldpostbriefen aus dem Osten zum Vorschein kam. Den Nazis war es gelungen, ihre gebetsmühlenartig wiederholten, von nationalistisch-rassistischer Selbstüberhebung und verbrecherischer Aggressivität gekennzeichneten Feindbilder massenwirksam zu machen. Kritisches Nachfragen wurde rigoros unterbunden. Unmoralisches, inhumanes Denken und Verhalten gerieten vielfach zu beschämender Normalität, jener Logik folgend, von der Heinrich Heine gemeint hatte: »Die Macht der Großen existiert zuvörderst in den Köpfen der Kleinen.«
Gescheitertes Siegeskalkül
Indessen: Der Krieg dauerte länger als geplant. Es gab Niederlagen, Frontlinien mussten »begradigt« werden, zunehmend fehlten der Rüstungsindustrie Arbeitskräfte. Die allzu schlichten russlandpolitischen Negativklischees mussten sich spätestens seit der verlorenen Schlacht um Stalingrad an der militärischen Realität messen lassen.
Darüber hinaus hatten manche Deutsche entgegengesetzte Erfahrungen im Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen und mit den nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitern gemacht. In der Führung der NSDAP brach Streit aus. Neben striktem Beharren auf totaler Ausplünderung der besetzten Gebiete und auf der Vernichtungspolitik gegenüber der russischen Bevölkerung wurde nach veränderten Sichtweisen gesucht. Denkschriften kursierten, deren Autoren die Frage aufwarfen, ob man die Russen nicht als »Helfer« gewinnen solle, statt sie weiter als »Heloten« zu behandeln.
Selbst innerhalb der Reichspropagandaleitung hieß es unter anderem, es dürfe nicht länger »von Sumpfmenschen, Barbaren, Bestien und Kolonialpolitik geredet werden«. Geplant war eine »Proklamation an die Ostvölker«. Darin sollte Anfang 1943 verkündet werden, Deutschland würde sich für eine »Gleichberechtigung der Ostvölker in der europäischen Völkerfamilie« einsetzen.
Im Schatten der Erinnerung - Sowjetische Kriegsgefangene, die größte Opfergruppe dieses Vernichtungskrieges, sind in der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur bis heute kaum präsent.
Zu ihrer Veröffentlichung kam es jedoch nicht. Hitler bezeichnete in seiner Rede zum zehnten Jahrestag seiner Erhebung zum Reichskanzler die Russen ganz im Stile der bislang geführten »Bestien«-Kampagne stattdessen als »Halbaffen auf Panzern«. Doch da war die Idee, ein »Großgermanisches Reich« mit einem geografisch direkt anschließenden kolonialen Ostimperium zu schaffen, schon missglückt. Dem gescheiterten Siegeskalkül nützte auch der Wahn nichts mehr, die Russen zu dämonisieren.
Vieles, ja Entscheidendes, verbirgt sich in den in der heutigen Bundesrepublik offiziell verwendeten Formeln vom »Eroberungs- und Vernichtungskrieg« oder »rassenideologischen Krieg«, den Hitler gegen Russland gleich einem von anderen Zielen freien Amoklauf geführt habe. Wesentliches droht im gewünschten Nebel zu verschwinden: das allzeit bekannte Ringen um wirtschaftliche Macht und Vorherrschaft.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!