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Die Regeln der Sprache
Es gibt eine Grammatik und es gibt Schikanen und Demütigungen
Am 15. Januar twitterte ich, teils scherzend, teils todernst: »Grammatik und Rechtschreibregeln sind ein kolonialrassistisches tool von white supremacy um BIPoCs zu unterdrücken don’t @ me«. Der Tweet bescherte mir knapp 200 Kommentare, 165 kommentierte Retweets, zahllose Screenshots und viel Empörung. Sehr viel Empörung. Und Beleidigungen. Was denn auch sonst. War der Tweet überspitzt formuliert? Vielleicht. Schwächt das die Kernaussage des Tweets? Also ich finde nicht.
Aber von vorn: Ich gehöre zu jener Ausländergeneration, die sich schon früh in den Fluren und Hallen von Ausländerbehörden oder dem Arbeitsamt zurechtfinden musste. Übersetzungen, Dolmetschen und Familienangehörige zu Visa-Angelegenheiten begleiten gehörte in den 80ern und 90ern zum Aufwachsen dazu, wie das Zeichentrick-Nachmittagsprogramm des Privatsenders RTL2. Schon früh merkten wir: Sprache öffnet Türen. Und das buchstäblich. Besonders in Deutschland - und da hat sich in den letzten 30 Jahren kaum was geändert - kommt man ohne Sprachkenntnisse nicht weit.
Für die Politik und auch für viele Menschen aus der Dominanzgesellschaft steht fest: Sprache ist der Schlüssel zur erfolgreichen Integration. Ob Migrant*innen integriert sind oder nicht, erkennen Deutsche daran, ob sie die Sprache beherrschen. Und Integration, beziehungsweise das, was die Deutschen unter Integration verstehen, muss das ultimative Ziel aller nicht-weiß-deutschen Menschen sein, denn nur dann, kann die Dominanzgesellschaft sie tolerieren. Ich schreibe bewusst ›tolerieren‹, nicht ›akzeptieren‹. Das ist reine Utopie.
Doch zurück zum Thema Sprache - und warum sie als Instrument benutzt wird, um Unterdrückungsmechanismen aufrechtzuerhalten. Denn darum soll es heute gehen, dem Thema Integration widmen wir uns ein andermal. Wer Deutsch als Fremdsprache lernt, merkt schnell: Ohne Regeln läuft hier nichts. Artikel, Fälle, Zeiten - alles hat seine Ordnung. Und das kann ja auch für viele Menschen den Spracherwerb erleichtern.
Doch abseits der Sprachschulen und des Fremdsprachenunterrichts, bedeutet dies für andere wiederum, dass ihnen Zugänge verwehrt werden, weil sie die Regeln der Sprache nicht beherrschen. Abgelehnte Anträge, weil der Sachbearbeiter im Amt angeblich nicht verstanden hat, was beantragt werden sollte, oder die schlichte Verweigerungshaltung der Behörde, jemanden anzuhören, solange die Person eine*n Dolmetscher*in braucht - solche und ähnliche Situationen haben wir alle schon erlebt.
Wie oft wurde meine Mutter von deutschen Kolleginnen zurechtgewiesen, weil sie den falschen Artikel benutzt hatte. Um den sogenannten Lerneffekt ging es diesen Menschen nicht. Es war reine Schikane und Demütigung. Während wir im Privaten diese Erfahrungen machten, lief auch in der Unterhaltungsbranche ein ähnlicher Film. »Comedians« wie Stefan Raab oder Kaya Yanar generierten ihre Lachnummern sehr gerne auf Kosten von Migrant*innen. Gebrochenes Deutsch, Akzente und Sprachdefizite - Rassismus in jeder Pointe.
Für all diese Ausführungen fehlte im Januar auf Twitter die Zeit und auch die Geduld. Denn dann müssten wie ehrlicherweise auch über Klasse und Ableismus sprechen, wenn wir schon darüber sprechen, wann und wieso Sprache exkludierend und diskriminierend ist. Doch little did I know, dass damals schon ein anderes Thema unter der Oberfläche brodelte. Die »Kritiker*innen« der Identitätspolitik (ich nenne sie mal so), allen voran Journalist*innen des »Südkurier«, der FAZ, aber auch etliche AfD-Politiker*innen, behaupteten im Februar plötzlich, dass Vertreter*innen der Identitätspolitik, die Mathematik abschaffen wollten, da sie angeblich rassistisch sei.
Doch die Mühe, die Studie aus 2016 zu lesen, die hat sich niemand gemacht. Darin steht, dass die MINT-Schulfächer, weil sie nicht inklusiv sind, Rassismus reproduzieren, marginalisierte Schüler*innen benachteiligen und schließlich diskriminieren können.
Nur eine Randnotiz. Die deutschen Medien finden den antimuslimischen
Terroranschlag in London nicht so wichtig.
Auch im Juni 2021 fiel niemandem bei »Bild« auf, dass das Thema, zumindest in den USA, schon längst durch ist. Sonst hätte bestimmt jemand den Artikel »Woke-Aktivisten immer irrer - Darum soll Mathe rassistisch sein« verhindert. Ob ich weiterhin mit polarisierenden Tweets provozieren werde? Natürlich. Sonst hätten Deutsche ja nichts, worüber sie sich aufregen könnten.
Erklärung: »Don’t @ me« sagt man bei Twitter zum Beispiel, wenn man nicht über den Inhalt des eigenen Tweets diskutieren möchte.
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