Eine ganze Welt aus Sound
Plattenbau. Die CD der Woche. Can frisch aus dem Archiv
500 Stunden Live-Musik sollen im Bandarchiv Can liegen. Wenig ist davon bislang veröffentlicht worden. 1999 erschien »Can - Live«, leider war die Aufnahmequalität mau, und man konnte anhand des Albums nur erahnen, was bei Can-Konzerten auf der Bühne los gewesen sein muss. Ein Meer aus Sound und Rhythmus und Krach. Ansonsten kursierten mulschige Bootlegs, die primär dokumentarischen Charakter haben. Sehr betrüblich, bei einer Band, die ihre Präsenz, glaubt man Augenzeugen, voll und ganz erst auf der Bühne entfaltet haben soll. Es hätte halt niemand Lust, sich durch das alles noch durchzuhören, kommentierte Irmin Schmidt vor 30 Jahren.
Schmidt, das inzwischen letzte noch lebende Gründungsmitglied, hat nun aber doch ein Einsehen und Material für eine Serie von Can-Live-Alben zusammengestellt. Das erste ist jetzt erschienen, »Live in Stuttgart 1975«. Man hört nach vielen Jahren mit der Musik von Can ohne große Erwartungen drauflos, und dann ist es, als würde eine ganzer Schwarm Vögel durch die Korova-Milchbar brausen. Can spielten zu der Zeit ohne Sänger. In Stuttgart waren es fünf lange improvisierte Stücke, in denen immer wieder momenthaft auf die Studioaufnahmen zurückgegriffen wird.
Ich hab selten eine Band gehört, die derart organisch zusammenfindet und selbst beim vorübergehenden Auseinanderdriften der Instrumente so wirkt, als würde ihre Musik von einem einzigen Körper produziert. Was man hier hört, es ist wirklich traumhaft.
Zwar tauchen immer wieder Melodieverläufe von den Alben auf, auch der frühen, aber es ist für die Präsenz, die diese Musik entfaltet, eher egal, sie wirkt wie spontan komponiert. Als würden vier Menschen sich gemeinsam hinstellen und drauflos spielen und am Ende hat man 90 Minuten durchdachte, stimmige und ja, doch, perfekte Stücke, denen nichts hinzuzufügen ist.
Cans Musik sei »das A und O der psychedelischen Tanzmusik«, schreibt Simon Reynolds in seinem Buch »The Sex Revolts«. Ein paar der Stücke bleiben gleich beim ersten Hören hängen. »Drei« etwa dauert fast 40 Minuten und entgrenzt sich im letzten Drittel in überraschender Weise. Jaki Liebzeit trommelt derart präzise und wach, es ist die reine Freude. »Vier« hat einige der schönsten Gitarrenlinien, die Can in ihrem an wunderschönen Melodien nicht armen Werk zustande gebracht haben. »Zwei« klingt, als würde ein Act vom Warp-Label bei »MTV Unplugged« auftreten, bis dann am Ende alle komplett freidrehen.
»Ihre Grooves sind die Sammelbecken, von denen sich die Instrumente entfernen können - aber nie zu weit«, schreibt Reynolds weiter, und es stimmt: Alles fließt hier, alles wird flüssig. Auch in dieser Hinsicht waren Can eine sehr undeutsche Band, deren Musik damals sowenig zur Gegenwart des Landes passte, wie sie jetzt irgendwie »vergangen« wirkt.
Das ist das vielleicht erstaunlichste an dieser Platte: Wie hier eine Band schlicht durch eine bestimmte Weise des Zusammenspiels einen Raum baut, in dem man mit der Kategorisierung nach Ländergrenzen, musikalischen Traditionen und pophistorischen Epochen nicht mehr weit kommt. Universale Musik sozusagen; weil sie den Eindruck erweckt, es herrsche kein Mangel mehr und alles - was immer »alles« genau meint - sei irgendwie in ihr enthalten. Stimmt natürlich nicht, kann ja gar nicht sein. Klingt aber so.
Can »Live in Stuttgart 1975«, Spoon
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