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Jenseits aller Mythen
Aus Sicht der unbeteiligten Opfer erzählt die Miniserie »Somos« vom Drogenhandel und vom Drogenkrieg
Filme und Serien über die Drogenkriminalität erleben seit Jahrzehnten einen gewissen Hype, der sich in den vergangenen Jahren eher noch verstärkt hat. Die Figur des »Narco«, wie der Drogenhändler auf Spanisch heißt, ist zum festen Bestandteil einer globalen Popkultur geworden, die ebenso in einer mexikanischen Kleinstadt, einer US-amerikanischen Metropole oder in einer französischen Banlieue angesiedelt sein kann. Damit einher geht ein konservatives, machistisches Männlichkeitsbild, das aber auch Handlungsmacht in sozial prekären Verhältnissen verheißt. Der Politikwissenschaftler Timo Dorsch wies unlängst in seiner Studie »Nekropolitik: Neoliberalismus, Staat und organisiertes Verbrechen in Mexiko« darauf hin, dass dieses Bild des Narco auch im Globalen Süden wirkt, wo etwa in Mexiko Hunderttausende in der Drogenindustrie arbeiten, die meisten aber als einfaches Fußvolk, ohne je die dem Narco zugeschriebene Handlungsmacht ausleben zu können. Ein vergleichsweise realistisches Bild der Drogenkriminalität, der damit einhergehenden mörderischen Gewalt und des Drogenkrieges in Mexiko jenseits aller Mythen und popkultureller Verklärungen bietet die neue Netflix-Miniserie »Somos«, die auf realen Ereignissen beruht.
Im März 2011 kam es in der nordmexikanischen Kleinstadt Allende zu einem Massaker, bei dem das damals sehr einflussreiche und heute noch operierende Zeta-Kartell mehr als 300 Menschen entführte und ermordete. Das Zeta-Kartell wurde 1999 von ehemaligen Elitesoldaten der mexikanischen Armee gegründet, die zum Teil im Zuge eines Austauschprogramms im Kampf gegen Drogen in den USA in urbaner Guerilla-Taktik ausgebildet worden waren. 2011 missglückte eine Operation der amerikanischen Drogenbehörde DEA, eine Zweigstelle der Zetas auszuheben. Das Kartell unternahm daraufhin einen mörderischen Rachefeldzug gegen Familienmitglieder und Freunde der Informanten, deren Identität geheim zu halten die DEA nicht geschafft hatte. Einem breiteren Publikum in den USA und Mexiko wurde die Geschichte nicht zuletzt durch die mehrseitige Reportage »How the U.S. triggered a massacre in Mexiko« des Non Profit Newsdesks »Pro Publica« bekannt, in der in Form von Oral History und eines Podcasts die tragische Geschichte von Allende aufgerollt wird. Die von Netflix produzierte sechsteilige Miniserie basiert frei auf Motiven dieser Reportage. Während »Somos« in den US-Medien derzeit recht breit besprochen wird, wurde die Serie hierzulande bisher kaum beachtet, was sicher auch daran liegt, dass es nur eine spanische Tonspur mit deutschen Untertiteln gibt. Dennoch ist die Serie absolut sehenswert.
»Somos« (spanisch für »Wir sind«) fächert ein ganzes nordmexikanisches Kleinstadtpanorama auf, erzählt detailliert vom Alltag zahlreicher Bewohner über mehrere Wochen hinweg. Da gibt es die im Football-Team spielenden Jugendlichen, die sich um die junge taffe Nancy scharen, die als einziges Mädchen im Team ist. Dann gibt es da eine von ihrem Mann getrennt lebende Tierärztin, deren Schwester als Telefonistin in der Polizeistation arbeitet. Ein alternder Rancher liegt im Generationen-Clinch mit seinem Sohn, der ständig nur Party feiert. Bei der Feuerwehr arbeiten zwei befreundete Männer, die sich bei den Anonymen Alkoholikern kennengelernt haben. Und eine junge Mutter wird gerade wieder schwanger von ihrem jugendlichen Ehemann, der sich mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und irgendwann sogar unschuldig ins Gefängnis kommt. Über die Beziehung wacht streng seine Schwiegermutter, die ihren Hotdog-Imbisskarren durch die stets leeren und oft staubigen Straßen von Allende schiebt. In der Kleinstadtkneipe wird indes fleißig gebechert. Dort sitzen die Mitglieder des Kartells, die neben Drogenschmuggel auch mit Zwangsprostitution, Schutzgelderpressung und Schuldeneintreibung zu tun haben, so dass regelmäßig Menschen, die mit ihren Zahlungen säumig sind, zusammengeschlagen werden.
Auch wenn Gewalt eine wichtige Rolle in der Serie spielt, wird sie hier nicht als handlungstragendes Element mit all der dazugehörigen Ästhetik reinszeniert, wie das für gewöhnlich in Filmen über organisierte Kriminalität der Fall ist. Vielmehr wird die Gewalt immer wieder explizit angedeutet, so dass dem Zuschauer klar ist, was passiert. Wobei das nicht weniger verstörend ist. Denn »Somos« erzählt vom Drogenhandel und vom Drogenkrieg aus Sicht der unbeteiligten Opfer, die in den Strudel der Gewalt und des Verbrechens hineingezogen werden. Die Situation in Mexiko, wo in den vergangenen 15 Jahren 300 000 Menschen im Zusammenhang mit dem sogenannten Drogenkrieg ermordet wurden, hat auch viel mit der Überlagerung von staatlicher und parastaatlicher bzw. krimineller Strukturen zu tun, die Hand in Hand gehen. Auch das zeigt die Serie eindrücklich, die das Funktionieren der Drogenkriminalität als industrielle Wertschöpfungskette mit kleinteiliger Arbeitsteilung inszeniert. So ist einer der zentralen Vorgänge der Ankauf einer Reihe von Blackberry-Handys, die den Zeta-Chefs alle drei Wochen gebracht werden, um die Kommunikation anonymisiert aufrecht zu erhalten. Genau in diese Informationskette interveniert schließlich die DEA und löst mit ihrer mehr schlecht als recht durchgeführten Aktion das Drama aus, das zum Massaker von Allende führte.
»Somos« inszeniert diesen Vorgang als stimmig durchkomponiertes Sozialdrama, in dem auch zahlreiche Laiendarsteller mitspielen und ein Kleinstadtuniversum aufleben lassen. Die vielen taffen Frauen spielen dabei eine besondere Rolle. »Männer sind zu nichts nutze«, sagt irgendwann die alte Imbissverkäuferin zu ihrer Tochter, als der Druck des Kartells und die Gewalt immer mehr zunimmt. Die Frauen sind dann auch die mutigen Charaktere, die sich gegen die Gewalt stellen. Die gewalttätigen Männer beugen sich fast allesamt dem Zwang und führen einfach die ihnen auferlegten Taten aus. Letztlich wird aber von dem Alltag Allendes und seiner Bewohner mehr erzählt als von dem Massaker, das dieses soziale Gefüge nachhaltig zerstört und viele überlebende Menschen traumatisiert hat. Wie dieses grausame, drei Tage dauernde Massaker, dessen Praxis an die Todesschwadronen mittel- und südamerikanischer Regime erinnert, am Ende durchgeführt wird und ihm ein Großteil jener Akteure zum Opfer fällt, deren Geschichten die Zuschauer zuvor miterlebt haben, schildert die Serie auf ebenso eindrucksvolle wie verstörende Art. Nach »Somos« dürfte es vielen schwer fallen, Filme und Serien über Drogenkriminalität und die mythische Figur des Narcos als bloße Unterhaltung zu sehen.
»Somos« - auf Netflix.
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