- Kommentare
- Konflikt zwischen Polen und der EU
Am Ende kämpfen die Schiedsrichter
Im Konflikt zwischen der EU und Polen kämpfen die höchsten Gerichte miteinander. Beschädigungen sind garantiert – auf beiden Seiten
Es ist, etwas unterbelichtet in der deutschen Öffentlichkeit, eine entscheidende Woche für die Zukunft Europas, genauer der EU. Die Protagonisten sind höchste Gerichte – der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf der einen Seite, das polnische Verfassungsgericht auf der anderen. Formal geht es vor allem um Fragen von rechtlichen Zuständigkeiten. Dazu kommen verschiedene, teils konkurrierende politische Ebenen und Felder. Das ist bereits juristisch kompliziert.
Politisch ist hier ein Konflikt so weit eskaliert, dass jeder Ausgang nur Verlierer und Beschädigungen erzeugen wird. Ein Konflikt, kaum noch aufzulösen, weil die Regeln der Konfliktlösung selbst schon Teil des Konflikts sind. Man stelle sich zwei Mannschaften vor. Ein Wettkampf besteht immer aus einem Spannungsfeld zwischen Konkurrenz – man möchte gewinnen – und Kooperation – man muss sich dafür auf fundamentale und für beide Seiten gültige Regeln, einen Rechtsrahmen einigen. Letzteres trifft auf den vorliegenden Konflikt nicht mehr zu. Dazu wäre ein Schiedsrichter nötig – was aber, wenn Schiedsrichter selbst gegeneinander kämpfen?
Im März hatte Polens Premier Mateusz Morawiecki dem Verfassungsgericht in Warschau die Frage zur Klärung vorgelegt, ob und wie polnisches Recht Vorrang vor EU-Recht hat. Grund hierfür war ein Urteil des EuGH, der wieder einmal gegen eine Justizreform der rechtskonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) entschied. Im Zuge dieser Reformen waren unter anderem eine Disziplinarkammer für höhere Richter eingeführt und weitere Reformen durchgezogen worden. Opposition und EU-Kommission sehen dabei fortwährende Angriffe auf den Rechtsstaat. Letztere forderte Polens Regierung im Juni auf, den Antrag vom März zurückzuziehen, sonst drohe ein erneutes Vertragsverletzungsverfahren. Für die PiS sind Justizangelegenheiten dagegen »eine ausschließlich nationale Domäne«.
Polens Verfassungsgericht – das nach dem Regierungswechsel Ende 2015 als erstes unter die Kontrolle der PiS geriet und so als neutrale Entscheidungsinstanz, als Schiedsrichter auf polnischer Seite ausfällt bzw. nicht anerkannt wird – hat die Entscheidung immer wieder vertagt. Wohl in dem Wissen, dass jede Entscheidung in dieser Frage fundamentale Erschütterungen im Land und in der EU auslösen wird. Bestätigt das Gericht die Sichtweise der EU-Kommission und des EuGH, wonach sich nationales Recht in entscheidenden Fragen europäischem Recht zu beugen habe, bricht zum einen das Narrativ des Vorrangs nationaler Souveränität zusammen. Die nationalen Justizinstitutionen und alle Reformen seit 2015 selbst, darunter das Verfassungsgericht, wären im selben Moment aus dem Spiel genommen: Deren Funktion und Besetzung wird ja seitens der EU ständig infrage gestellt. Bestätigt das Verfassungsgericht hingegen den Vorrang nationalen Rechts, dann sind vonseiten Polens höchstrichterlich die EU-Verträge und deren Grundlagen angezweifelt. Und sofort stünde die Frage im Raum, wie es mit Polen als einem wichtigen EU-Mitgliedsstaat grundsätzlich weitergeht.
Beide Konfliktparteien haben den Streit auf jene Spitze getrieben, die man in manchen Konflikten vielleicht besser nie erreicht. Die Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen – ebenso gegen Ungarn – wurden seitens der EU oft als »atomare Option bezeichnet«. Mittlerweile sind mehrere dieser Bomben gezündet. Die anstehende Entscheidung der polnischen Verfassungsrichter hat das Zeug zur politischen Neutronenbombe. Ob sie wie derzeit vermutet diesen Donnerstag fällt oder doch nicht – der EuGH wird wahrscheinlich am Donnerstag entscheiden, ob die angesprochenen Disziplinarkammern dem Rechtsstaatsprinzip der EU widersprechen.
Aber auch die Rolle des EuGH ist nicht unproblematisch: Als höchste Institution des europäischen Rechts hat er ein Eigeninteresse daran, dessen Gültigkeit auszuweiten. Doch die Grundlagen europäischen Rechts speisen sich aus nationalen Rechten und Rechtssystemen. Der EuGH fordert im Zweifel Durchgriff des EU-Rechts, Polen beharrt auf dem Vorrang nationalen Rechts. Als Schiedsrichter erkennen sich beide Seiten nicht an. Jede Entscheidung der nächsten Tage wird eine andere EU bedeuten.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.