Himmlischer Tinnitus
Süßer die Rückkopplungen nie klangen - »Loveless« von My Bloody Valentine wird wieder veröffentlicht
Heute fangen wir ganz unten an, bei den Schuhen, und nähern uns dann Gott. Wobei die Schuhe - zumindest in der Musik - mehr mit Gott zu tun haben, als man vermuten würde.
Doch der Reihe nach: In den 1960er Jahren kam ein Produzent namens Phil Spector auf die Idee, sich nicht nur einen Gitarristen ins Studio zu holen, sondern derer vier. Damit nicht genug duplizierte oder verdreifachte er die jeweilige Instrumentenaufnahme. So schuf er, indem er Gitarre auf Gitarre schichtete, eine wuchtige Klangmauer, die »Wall of Sound«. Der Zuhörer musste den Eindruck gewinnen, in Spectors Echokammer hätte ein Dutzend Gitarreros gewütet.
Das gefiel nicht nur Rockern, die es auf diese Weise noch lauter krachen lassen konnten, sondern seit den späten 70ern auch feinsinnigeren Gemütern. Denn mithilfe elektronischer Effektgeräte und Synthesizer konnten Gothic- und Dark Wave-Musiker, wie Siouxsie & The Banshees, Joy Division und The Cure, sphärische Klangbilder erschaffen, die nicht von dieser Welt waren.
Und genauso weltentrückt wirkten auch die Musiker, wenn sie auf der Bühne standen. Ja, zunehmend agierten sie, als würde das Publikum gar nicht existieren. Seit Mitte der 1980er starrten immer mehr Gitarristen bei Auftritten auf ihr Schuhwerk. Bloß hatte dieses »Shoegazing« nichts mit Selbstvergessenheit zu tun, sondern war schlicht eine Notwendigkeit, weil sich dort, am Boden, die Effektgeräte befanden, mit denen man der Gitarre Hall und Rückkopplungen entlocken konnte.
Natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis Pop - das Freudenmädchen der Musikgeschichte - diesen ätherischen, psychedelischen Klängen die Dunkelheit und Todessehnsucht austrieb. Da gab es zunächst die Cocteau Twins-Sängerin Elizabeth »Liz« Fraser, die ein englischer Kritiker als »die Stimme Gottes« bezeichnete. Derart weltvergessen hatte bis dato niemand gesungen. Man verstand nicht so recht, was genau sie artikulierte, doch war dies unwichtig in einem Genre, das sich Dream Pop nannte. Schließlich ging es um Schwelgen und Schweben, nicht um kritische Textanalyse.
Diese Kunst des Traumversunken- und Unverständlich-Klingens trieb Bilinda Butcher, Sängerin und Gitarristin von My Bloody Valentine, auf dem 1991 erschienenen Album »Loveless« auf die Spitze. Wenn auch unfreiwillig. In einem Interview erläuterte sie ihre ungewöhnliche Herangehensweise: »Oft nehmen wir morgens um halb acht den Gesang auf. Normalerweise bin ich dann gerade erst eingeschlafen und muss geweckt werden, um zu singen. Während ich singe, versuche ich mich daran zu erinnern, wovon ich geträumt habe.«
Doch hätte man vermutlich Bilinda Butchers hingehauchte Worte selbst dann nicht zu entschlüsseln vermocht, wenn sie bei den Aufnahmen hellwach gewesen wäre. Denn die »Wall of Sound«, gegen die sie ansingen musste, war nicht nur massiv, sondern infernalisch laut. Zu allem Unglück liebte es der Kopf der Band, Kevin Shields, mit Gitarren-Rückkopplungen zu arbeiten. Das damit verbundene Fiepen war irgendwann zu viel für die Ohren. Angesichts bestialischer Schallpegel gingen beide, Shields und Butcher, vor dem Tinnitus in die Knie. Da zwischenzeitlich auch Drummer Colm Ó Cíosóig einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte - um nur die größeren Unpässlichkeiten zu erwähnen - kam die Produktion des Albums immer wieder zum Halt. Im Februar 1989 hatten My Bloody Valentine zum ersten Mal das Studio betreten, im September 1991 verließen sie es das letzte Mal.
Wobei die Bezeichnung »das Studio« nicht korrekt ist. Tatsächlich waren es 19 verschiedene Studios, in denen »Loveless« entstand. Shields Perfektionismus trieb nicht nur seine Musikerkollegen und mehr als ein Dutzend Tontechniker in den Wahnsinn, sondern auch das Plattenlabel Creation Records. Was Michael Cimino mit dem Film »Heaven’s Gate« gelungen war - eine Produktionsfirma in den finanziellen Abgrund zu reißen -, schaffte Shields mit einem Album. Es heißt, das Werk habe eine Viertelmillion Pfund verschlungen, nach heutiger Kaufkraft rund 600 000 Euro. Danach waren Creation Records derart hoch verschuldet, dass sie sich unters Dach des Sony-Konzerns flüchten mussten.
Doch aus Sicht des Hörers ist »Loveless« jeden Penny wert. Indem Shields die Rückhalleffekte der Gitarren sampelte und aufeinandertürmte, entstand ein Klanggebilde, das es in dieser Vollendung bis dahin nicht gegeben hatte: die »Wall of Noise«. Der Clou dabei ist, dass dieser kunstvoll arrangierte Lärm nichts gemein hat mit den testosterongefluteten Krachorgien männlicher Metal-Bands. »Loveless« klingt völlig aggressionsfrei. Es ist, als würden die überirdisch schönen Melodien den Lärm in eine Wolke hüllen. Eine aus Zuckerwatte.
Durch diese Wolke schimmert die Stimme von Bilinda Butcher hauchzart hindurch. Während sie und Shields gitarrespielend auf die Schuhe starren, steuert ihr Gesang gen Himmel. Dass dies noch heute genauso göttlich klingt wie ehedem, davon kann man sich jetzt - dank der Wiederveröffentlichung von »Loveless« - selig lauschend überzeugen.
My Bloody Valentine: »Loveless« (Domino)
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