Wagner auf LSD

Stardirigent Kirill Petrenko erschafft mit »Tristan und Isolde« an der Bayerischen Staatsoper musikalische Traumwelten

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 9 Min.

Über kaum einen Akkord dürfte so viel geschrieben worden sein wie über den ersten Akkord aus Richard Wagners »Tristan und Isolde«, den sogenannten »Tristan-Akkord«. Eigentlich geht es eher um eine kleine Tonfolge von drei Takten Länge: Die Celli spielen eine aufsteigende kleine Sexte, es geht einen Halbton hinab und einen weiteren Halbton, und just auf diesem beginnt die Oboenmelodie, während nach unten der Akkord von den Fagotten gebildet wird. Ein »nebelhafter, mehrdeutiger halbverminderter Septakkord«, wie Alex Ross schreibt, eigentlich nichts Außergewöhnliches, aber durch den »Dunstraum« der drei vorhergehenden Cello-Töne klingt dieser Akkord mit seinem gis-Vorhalt, der nach »a« aufgelöst wird, »sowohl sinnlich als auch instabil«. Und dieser Eindruck, die tonale Unstetigkeit, wird in den beiden folgenden Wiederholungen noch verstärkt, da diese in höheren Tonlagen nur identisch scheinen: In der ersten Wiederholung hören wir nun eine große statt der kleinen Sexte, und die zweite Wiederholung enthält einen zusätzlichen Abwärtsschritt in den Celli sowie einen zusätzlichen Aufwärtsschritt in den Bläsern.

Das Geheimnisvolle des Tristan-Akkords besteht vor allem in diesem Ungefähren in der Fortschreitung, dem Ungenauen beziehungsweise dem geringfügig Ähnlichen, also im Spielen mit unseren Hörgewohnheiten. Wagner rührt in diesen ersten geheimnisvollen Takten seiner Partitur, »langsam und schmachtend«, seinen harmonischen Zaubertrank an und führt uns ins Unbewusste, in eine Traumwelt - und wo harmonische Gesetze nicht mehr gelten, wo die Harmonik viel- statt eindeutig wird, da sind auch die gesellschaftlichen Verhältnisse ins Ungefähre und Traumhafte verrückt. Der Musikwissenschaftler Ernst Kurth sprach 1920 von Auflösungserscheinungen klassisch gebundener Kulturwerte.

Der Tristan-Akkord, dieser Inbegriff spätromantischer Harmonik, die ihren Halt zur Tonika schon fast verloren hat und eine Ahnung vom Umschlag in die im nächsten Jahrhundert einsetzende Atonalität gibt, ist gewissermaßen das Kraftzentrum jeder Aufführung von »Tristan und Isolde«. Hier, in den ersten Takten der in der Partitur von Richard Wagner so genannten »Einleitung« (gebräuchlich ist heute der Begriff »Vorspiel«), entscheidet sich, wohin die knapp vierstündige Reise gehen wird. Kirill Petrenko und das famose Bayerische Staatsorchester erzeugen mit ihrer detailreich ausgefeilten, fast kammermusikalisch transparenten Gestaltung des Vorspiels und den die Spannung geradezu unerträglich steigernden langen Pausen einen Möglichkeitsraum, in dem die Musik regieren kann - und, das wird bei diesem Münchner »Tristan« wieder klar: Es ist die Musik, auf die es in dieser Oper ankommt.

Die von Wagner fast schon ironisch so bezeichnete »Handlung« ist eher banal und kreist um Begriffe wie Ehre und Betrug. Eine erstarrte Gesellschaft bietet keine Lösungen jenseits ihrer Konventionen an, die Protagonisten, allen voran die Titelhelden, wanken und schwanken durch die Welt, ohne sich je gegen die Konventionen zu stellen, ohne auch nur einen Ausbruch zu versuchen. Tristan ist ein tumber, empathieloser Karrierist, der Isoldes Verlobten getötet hat, dabei jedoch schwer verwundet wurde. Nur Isolde kann ihn heilen, also schleicht er sich unter falschem Namen bei ihr ein. Isolde heilt ihn, hat ihn aber auch als Mörder ihres Verlobten erkannt und will ihn töten - doch in dem Moment, da sie das Schwert gegen Tristan erhebt, blickt er ihr in die Augen, und sie hat Mitleid, »seines Elendes jammerte mich«.

Isolde lässt Tristan entgegen des Ehrbegriffs ihrer Gesellschaft leben, er schwört ihr daraufhin »mit tausend Eiden ew’gen Dank und Treue«. Doch wieder an Markes Königshof eingetroffen, schlägt Tristan seinem König und Onkel vor, dass der aus machtpolitischen Gründen Isolde heiraten soll, und kehrt als Brautwerber nach Irland zurück, um Isolde Marke zuzuführen - ein doppelter Vertrauensbruch, eine ungeheure Demütigung für Isolde. Doch all dies findet nicht in der Oper, in Wagners »Handlung« statt, sondern im Inneren der Personen, oder es wird von ihnen berichtet, also aufgesagt beziehungsweise »aufgesungen«. Es gibt hier ja »fast gar nichts zu sehen«, wie Wagner selbst schrieb.

Auf der Überfahrt nach Cornwall verlangt Isolde von Tristan, seine unbeglichene Schuld durch einen Todestrank einzulösen. Doch Brangäne, Isoldes Dienerin, vertauscht den Todes- gegen einen Liebestrank - was möglicherweise keinen gar so großen Unterschied macht. Liebestod und Todesliebe scheinen in der nachtdunklen, irrationalen Tristan-Welt häufig eins. Und es gibt zur irrlichternden, wilden, wunderbaren Musik eine von Krzysztof Warlikowski großartig inszenierte und von Małgorzata Szczęśniak (beängstigend machtstarre Bühne und tolle Kostüme) und Felice Ross (Licht) in schillernde Farben getauchte Szene zu sehen: eine Art LSD-Trip mit auf Video zugespielten, sich ständig verändernden Fantasieformen, aus allen möglichen Rotschattierungen gewonnen. Urplötzlich mutiert er zu »treuloser Holder« und »trautester Mann«, und zu »seligste Frau« und »süßeste Maid« sie - ein opulent durchgeknallter Liebeswahn auf Drogen, an dessen intensive Bilder und Musik man sich lange erinnern wird.

Am Ende des ersten Aufzugs konnten sie eben noch die Entdeckung ihrer Liebesgeschichte vermeiden, im zweiten wartet Isolde nun händeringend darauf, dass König Marke, mittlerweile ihr Ehemann, mit seiner Jagdgesellschaft aufbricht, so dass sie eine Liebesnacht mit Tristan verbringen kann. Auf einem Video im Hintergrund läuft Isolde durch hohe Treppenhäuser und endlose Hotelgänge, eine Mischung aus Stanley Kubricks Overlook-Hotel im Horrorfilm »The Shining« und »In Bed with Madonna«. Endlich sehen wir die Heldin in ihrem Zimmer, sehnsüchtig auf Tristan wartend und sich musikalisch verzehrend - musikalisch, denn die erotische Spannung der Partitur entspricht in der Realität eher der Verdrängung aller tatsächlichen Liebesdinge.

Tristan und Isolde erleben keineswegs eine gemeinsame Liebesnacht, wie es die von Petrenko unübertrefflich gestaltete Liebesexplosion des Orchesters nahelegen könnte, sondern sie stehen in Warlikowskis Inszenierung wie in einer Paartherapie zehn Meter nebeneinander und berichten dem Publikum von ihren Liebesvorstellungen, von vergangenen Verletzungen und Wünschen an die Gegenwart, die jedoch keinesfalls umgesetzt werden, sondern bloße Behauptungen bleiben. Sie beschließen keine gemeinsame Zukunft, sondern lassen ihr Versagen, die große Utopie namens Liebe gemeinsam leben zu wollen, in eine spätromantische Todessehnsucht, in Todesverlangen umschlagen. Sie inszenieren sich in ihrem ausufernden Liebesduett als »Nachtgeweihte«. Sie erhoffen sich die Auslöschung ihrer alltäglichen Welt zugunsten einer »Welt-Entrückung«, die sie nur im Traum finden.

Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen weist in ihrem im Programmbuch abgedruckten Essay auf Sigmund Freuds Schrift »Jenseits des Lustprinzips« (1920) hin: auf das »menschliche Verlangen nach einem ursprünglicheren Zustand vor dem Widerstreit zwischen äußeren Erwartungen und innerem Begehren, der soziales Leben ausmacht. Er nennt diesen Drang den Todestrieb«. Und just diesem Todestrieb ergeben sich Tristan und Isolde. Auf der Bühne steht während aller drei Aufzüge Freuds Sofa zur ständigen Nutzung.

Es handelt sich also keineswegs um ein »Hohelied der Liebe«, das da gesungen wird, die Liebe nicht als »dieser schönste aller Träume« (Wagner an Liszt, Dezember 1854), eher schon »die Liebe als furchtbare Qual« (Wagner, August 1856). Vor allem aber »das traurige Lied der unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen, der Konvention, der Dogmatisierung, der Lüge, nicht mehr möglichen Realisierung von außergewöhnlichen Begegnungen«, wie Harry Kupfer 1999 anlässlich seiner Berliner Inszenierung dieser Oper meinte. Beschädigte Helden, die durch eine Traumwelt wanken, die Realität verweigernd oder verdrängend, somnambule Figuren auch als Spiegel der Trostlosigkeit, die das deutsche Bürgertum nach der gescheiterten Revolution von 1848 erfasst hatte. »Das absolute Versagen, auch das Sich-Versagen, eine Lösung zu finden.« (Kupfer)

Diese Gestalten wissen nicht, wer sie sind, noch wo sie sind oder was sie tun. Sie wissen ja nicht einmal, ob sie leben: »Welches Land?«, fragt Isolde, »welcher König?«, rätselt Tristan, »Wo - war ich? - Wo - bin ich? Leb ich?«, stottert er. Sie haben keine Worte für ihre Traumwelt und ihre Empfindungen. Umso mehr erzählt die Musik davon. Wagner sprach während seiner Arbeit am zweiten Aufzug mit dem vierzigminütigen Liebesduett von der »tiefen Kunst des tönenden Schweigens«.

Dieses tönende Schweigen formulieren Kirill Petrenko und das Orchester auf unnachahmliche Weise, sie deklinieren es in allen möglichen Variationen durch. So werden die gesungenen Aussagen der Protagonisten erst zu einem tiefen Psychogramm, dessen Sog wir uns nicht entziehen können. Das Orchester trägt die Sänger geradezu - herausragend, sowohl stimmlich als auch was die Gestaltung der Isolde als mitunter geradezu sarkastischer, dann wieder verzweifelter Frau in einer feindlichen Zeit angeht: Anja Harteros. Wahrlich kein Wagner-Tenor, aber besonders in den leisen Passagen diese merkwürdige, traumverlorene Figurt souverän und vielschichtig gestaltend: Jonas Kaufmann.

Und der »Liebestod«? Den braucht es im Grunde gar nicht mehr, Nietzsche attestierte dem Wagner’schen Liebespaar ein »Tot-sein bei lebendigem Leibe«. Sie sind ja längst schon tot und verneinen ihr Leben ebenso wie ihre Liebe, sie begehren nicht auf, sondern flüchten in ihre Traumwelten. Sowieso ist der »Liebestod« eher ein Missverständnis, so heißt das Stück erst seit Franz Liszts populärer Klavierparaphrase »Isoldens Liebestod« von 1868. Wagner wählte den Begriff nur für die ersten Takte der Einleitung. Den letzten Monolog bezeichnete er dagegen als »Isoldes Verklärung«: »Isolde, die nichts um sie her vernommen, heftet das Auge mit wachsender Begeisterung (!) auf Tristans Leiche«, lautet Wagners Regieanweisung, ehe Anja Harteros traumschön und verzaubernd anhebt zu singen: »Mild und leise / wie er lächelt (…) Immer lichter / wie er leuchtet / Sternumstrahlet hoch sich hebt?« Also eher Tristans Verklärung? Man mag das als Isoldes Wahnvorstellung betrachten, aber nicht unwahrscheinlich, dass Wagner eher einen scheinbaren Tod im Sinn hatte, »der sich in Liebe verwandelte« (Ross).

Doch vermutlich geht es um mehr. Adorno hat darauf hingewiesen, dass »hinter der Wagner’schen Freiheitskulisse Tod und Vernichtung bereit stehen«, und dazu gehört, dass Isolde »ihren leibhaften Tod als ›höchste Lust‹ erfährt« - »ertrinken, versinken, unbewußt, höchste Lust« lauten die letzten Worte der Handlung. Die Glorifizierung eines nihilistischen Todeswunsches? Vielleicht, doch Petrenko liefert eine weitere Deutung: einen gewissen vorsichtigen Liebesoptimismus, von magischen leisen Klängen verzaubert und durch heftigste Eruptionen gestählt. Also weniger Isoldens Liebestod als die Auflösung in der Musik, mit der alles begann, nur eben in einem »schönst instrumentierten«, endlos verklingenden H-Dur-Akkord. In dem just das Englischhorn (wundervoll: Simone Preuin) zum Schweigen verdammt ist, das zu Beginn des dritten Akts noch so betörend und einzigartig die »ernste Weise« des Todes gesungen hat.

Die große tragische Figur dieser Geschichte ist zweifelsohne Isolde, die am Ende ohne Heilung, ohne Möglichkeit, ihr Glück tatsächlich zu leben, verloren zurückbleibt. »Tot denn alles! Alles tot!«, hat Marke zuletzt gesungen. Die Romantik ist an ihrem Ende angelangt. Es wird noch einige Jahrzehnte dauern, bis die Moderne anbricht. Erst das 20. Jahrhundert, erst Freud, Lacan, Theweleit und all die anderen werden Isolde helfen können.

Nächste Vorstellung am 31.7. im Rahmen von »Oper für alle« bei freiem Eintritt sowie im Stream

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