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Kunststoffmüll als Umweltstress
Wissenschaftler*innen mahnen, die globale Plastikverschmutzung könne Ökosysteme unwiederbringlich schädigen. Ein internationales Abkommen soll Abhilfe schaffen
Dass die einst so gefeierten Kunststoffe nicht ohne Tücke sind, ist lange bekannt. Ihre große Haltbarkeit ist Segen und Fluch zugleich: Während des Gebrauchs sehr praktisch, stellt sie uns bei der Entsorgung vor große Probleme. Neu ist die Dringlichkeit, mit der verschiedenste Wissenschaftler*innen sich dem Thema widmen und an die Politik appellieren, diesbezüglich zu handeln. Im Fachjournal »Nature Sustainability« erschien im Juni eine Serie von Artikeln zum Plastikmüll in den Ozeanen, die »Science« legte im Juli mit einem Themenschwerpunkt zu Plastik nach.
Bis zum Jahre 2015 wurden laut »Science« weltweit insgesamt knapp acht Milliarden Tonnen Kunststoff hergestellt. Weniger als ein Drittel davon wird noch genutzt, sechs Prozent wurden recycelt und 8,5 Prozent verbrannt. Über 55 Prozent aber landeten in der Umwelt. An den entlegensten Orten der Erde, wie Wüsten oder Berggipfel, ja selbst in menschlichen Lungen oder in deren Plazenta, wurden bereits Plastikpartikel gefunden. Und die Produktion nimmt weiter zu.
Eine internationale Gruppe von Wissenschaftler*innen um Matthew MacLeod, Professor für Prozesse und Dynamiken von Umweltchemikalien an der Stockholm University, warnt in einer der in »Science« veröffentlichten Studien vor möglichen noch unentdeckten Effekten. Schon heute sei die Verschmutzung irreversibel, und mit der Verwitterung großer Plastikgegenstände werde die Menge kleiner Partikel und freier Chemikalien noch steigen. Am schnellsten jedoch würden vermutlich toxische Additive wie Weichmacher oder Flammschutzmittel an die Umwelt abgegeben, denn sie werden den Kunststoffen nur beigemischt.
Laut Mitautorin Annika Jahnke wirken die Chemikalien als zusätzlicher Stressor auf das Ökosystem - neben Erwärmung, Versauerung und Überdüngung der Ozeane. Abgesehen von den Hotspots seien derzeit die Plastikpartikel und Chemikalien in der Umwelt meist deutlich niedriger konzentriert als bei den Laborversuchen, in denen Organismen Schäden davontrugen. Neuere Studien belegen jedoch bereits negative Auswirkungen bei empfindlicheren Lebewesen wie Korallen.
Auch behindert Plastik an der Oberfläche der Ozeane den Kohlenstofftransport in die Tiefsee und treibt so den Klimawandel an. »Mikroplastik befindet sich unter anderem in den oberen Wasserschichten und damit im selben Habitat wie Algen. Indem es das Sonnenlicht abschirmt, können die Algen weniger Kohlenstoff aus der Atmosphäre aufnehmen und damit weniger wachsen«, erklärt Jahnke. So gelangt nach ihrem Absterben weniger Kohlenstoff in die Tiefe.
»Wir dürfen nicht warten, bis umfassendere Schädigungen in der Umwelt festgestellt werden, denn dann ist es zu spät«, mahnt die Umweltchemikerin am Helmholtzzentrum für Umweltforschung (UFZ). »Zwei Drittel der Erde ist mit Wassermassen bedeckt. Im offenen Ozean ist es logistisch unmöglich, das Plastik wieder herauszuholen, zumal wenn es immer weiter fragmentiert oder in die Tiefsee absinkt.« Deshalb brauche es ein schnellstmögliches Handeln seitens der Regierungen. »Notwendig sind Maßnahmen wie etwa die Begrenzung der Produktion neuer Kunststoffe, um den Wert von recyceltem Kunststoff zu erhöhen, oder ein Exportverbot von Kunststoffabfällen in Länder, die keine guten Recyclinginfrastrukturen haben«, erklärt AWI-Forscherin und Mitautorin Mine Tekman.
Bereits auf dem vierten Treffen der UN-Umweltversammlung (UNEA) 2019 schlugen Norwegen, Sri Lanka und Japan neben anderen Maßnahmen ein international verbindliches Abkommen gegen Plastikverschmutzung vor. Indien trat dafür ein, weltweit kein Einwegplastik mehr zu verwenden. Obwohl die Mehrheit der Mitglieder ein ambitioniertes, gemeinsames Vorgehen über den gesamten Produktzyklus von Kunststoffen als dringend geboten erkannte, scheiterten die Initiativen an dem Widerstand der USA und einiger anderer Staaten.
Zumindest deutliche Fortschritte, wenn auch noch keinen Durchbruch, gab es auf der fünften Sitzung im Februar 2021. Rund 80 Regierungen treten inzwischen für ein internationales Abkommen ein; auf dem nächsten Treffen der UNEA im kommenden Jahr wollen Peru und Ruanda ein zwischenstaatliches Verhandlungsgremium dazu gründen.
Ein ganzheitliches Abkommen befürworten auch Nils Simon von adelphi, einer führenden Denkfabrik und Beratungseinrichtung zu den Themen Klima, Umwelt und Entwicklung, und sein internationales Team. Ziel sei es, die Produktion von neuem Plastik bis 2040 zu minimieren, eine sichere Kreislaufwirtschaft für Kunststoffe zu schaffen und die Plastikverschmutzung in der Umwelt zu eliminieren, schreiben sie in einem Artikel in derselben »Science«-Ausgabe. Dafür müssten Kunststoffe überhaupt recyclingfähig sein und dürften keine gefährlichen Substanzen mehr enthalten. Um Konfusion bei den Konsument*innen zu vermeiden, müssten Begriffe wie »Bioplastik« zudem klar definiert sein.
Ein erster Schritt zur Reduktion der Herstellung weiterer Kunststoffmengen könnte hierzulande die seit Anfang des Monats umgesetzte EU-Direktive sein, die einige Plastik-Einwegprodukte wie Strohhalme, Wattestäbchen und To-Go-Becher verbietet. Immerhin machen, wie die spanische Forscherin Carmen Morales Caselles und ihr Team vergangenen Juni in einer Studie in »Nature Sustainablility« feststellten, Take-away-Boxen und Getränkeverpackungen global den Löwenanteil des Mülls im Meer aus, gefolgt von Hinterlassenschaften der Fischerei. Dabei sind jedoch lange noch nicht alle To-Go-Produkte verboten. Simon spricht deshalb von »Symbolpolitik«, die dringend nachgebessert werden müsse - eine Einschätzung, die auch Jahnke und Umweltverbände teilen.
»So etwas in einem globalen Abkommen festzuschreiben, ist eine knifflige Sache, weil sich darauf alle Staaten einigen müssen«, erklärt Simon. »Deshalb sieht unser Vorschlag bisher vor, Länder oder Regionen zu motivieren, auf ihren Gebieten Verbote einzuführen - etwa von Plastiktüten. Wenn sich dafür genügend Länder finden, können sie das dann zu einer globalen Norm zu machen.«
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