Mangel im Überfluss
Sieben Tage, sieben Nächte
Etwa 2,5 Milliarden Tonnen an Lebensmitteln gehen pro Jahr verloren, ermittelte eine diese Woche veröffentlichte Studie des World Wildlife Fund und des britischen Einzelhandelskonzerns Tesco; sie verrotten auf dem Feld oder werden von Produzenten, Handel und Verbrauchern weggeworfen. Dies entspreche rund 40 Prozent der gesamten Produktion. Von der Herstellungsseite her gesehen addieren sich diese Lebensmittel zur gigantischen Rohstoffverschwendung wie zur ebenso gigantischen Menge an unnötiger Arbeit, die der Philosoph Christian Kreiß ein endemisches Problem unserer Wirtschaftsweise nennt. Auf diese Weise erinnert uns die Realität daran, dass kapitalistische Rentabilität nicht - wie Ökonomen oft meinen - identisch ist mit wirtschaftlicher Effizienz. Und schon gar nicht mit Vernunft.
Viele Menschen hätten die verlorenen Lebensmittel gut gebrauchen können. Nicht so sehr die 43 Prozent der EU-Bürger, die laut aktueller Berechnung von Eurostat übergewichtig oder fettleibig sind. Sondern eher jene, die an Hunger leiden. Drei Milliarden Menschen dürften nicht in der Lage sein, sich halbwegs gesund oder auch nur ausreichend zu ernähren, so eine Studie, die diese Woche im »Nature Food«-Journal erschienen ist. Die Corona-Pandemie hat ihre Zahl um 140 Millionen erhöht, dieses Jahr sollen noch mal knapp 100 Millionen dazukommen. Ursache ist weniger ein Mangel an Nahrungsmitteln, sondern deren Preis. Denn der ist gestiegen. Gleichzeitig haben viele Menschen in der Pandemie ihre Jobs verloren oder anderweitig Einkommenseinbußen erlitten und können die gestiegenen Preise nicht zahlen. Gleichzeitig fehlt vielen Staaten gerade in Afrika das Geld, um Lebensmittel an die Bevölkerung zu verteilen.
Gründe für den Hunger sind also weniger Dürren, Stürme, Überschwemmungen, sondern die Gesetze des Marktes selbst, die vor den Anbau die renditeträchtige Investition, vor das Essen die Zahlung und vor die Zahlung das Geldverdienen setzen. Damit darüber niemand zum Kapitalismuskritiker wird, weisen Ökonomen darauf hin, dass das Wirtschaftssystem selbst zu den Leidtragenden des Hungers gehört. Denn er führt zu weiteren Millionen an mangelernährten Kindern, die später weniger, wenig oder nichts zum Wirtschaftswachstum beitragen können. Die dadurch entstehenden »Produktivitätsverluste« beziffert »Nature Food« bis 2022 auf knapp 30 Milliarden Dollar. So werden aus Opfern des Marktes verlorene Produktivitätsressourcen gemacht, verschwendetes Humankapital, das der Markt gut hätte brauchen können.
»Hunger (oder Armut, Arbeitslosigkeit etc.) bedeutet nicht nur menschliches Leid, sondern auch ökonomische Einbußen« - solche Sätze kennt man. Und man fragt sich: Warum reicht das menschliche Leid allein nicht aus, um tätig zu werden? Warum muss jeder Katastrophe ein Preisschild umgehängt werden? Stephan Kaufmann
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