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»Wohnungen statt Weltraumspaziergänge«
Sozialsiedlung Fuggerei in Augsburg seit 500 Jahren in Betrieb. Die Bewerberzahlen steigen
Wohnungsnot und Hartz IV machen es möglich: Die Fuggerei in Augsburg lebt. Nicht als Museum einer Stiftung aus dem Spätmittelalter, sondern wie eh und je als Sozialsiedlung für bedürftige Menschen, die sonst nur schwer ein Dach über den Kopf fänden. 500 Jahre wird die Siedlung alt und die Zahl der Bewerber nimmt zu. Als sei der Sozialstaat nicht mehr fähig, Armut zu verhindern.
Die Jakoberstraße in der Augsburger Innenstadt ist gesäumt von kleinen Kneipen und Läden, an denen die Trambahn vorüberfährt. Bei der Hausnummer 26 führt ein Torbogen die Besucher in die Vergangenheit. Genauer gesagt: in die durch eine Mauer abgeschlossene Wohnsiedlung aus dem Spätmittelalter. Wer einen Eintrittspreis von 6,50 Euro bezahlt, kann durch die Herrengasse, die Ochsengasse oder die Hintere Gasse schlendern und die kleinen Gärten hinter den einstöckigen, gelb gestrichenen Häusern mit den grünen Türen und den Klingelzügen besichtigen. An einer Gassenkreuzung sprudelt ein Brunnen, auf einem Fensterbrett räkeln sich Katzen in der Sonne und Efeu rankt an den Hauswänden empor. Autos gibt es keine. Hie und da sitzen ältere Frauen im Schatten der Bäume. Manche Touristen glauben, sie sind Statisten, die das Museum beleben sollen. Doch die Fuggerei ist kein Museum, sondern soziale Realität: Heute wohnen hier an die 150 bedürftige Menschen, die wegen ihren geringen Einkommens sich auf dem normalen Mietmarkt sehr schwer täten.
Zu ihnen gehört Christine Thoma, die 70-Jährige ist vor neun Jahren in die Fuggerei gezogen und wohnt in der Herrengasse 57. An die 60 Quadratmeter hat die Wohnung im ersten Stock: Wohnzimmer mit Küchenzeile, Bad, Schlafzimmer. Die Treppe nach oben ist etwas steil. Auf dem Sofa sitzen Plüschtiere, eine Wand ist rosa bemalt. »Ich fühle mich hier sehr wohl«, sagt die Augsburgerin. Wie die anderen Bewohner musste sie nach dem Stiftungsstatut drei Bedingungen erfüllen: In Augsburg wohnen, katholisch sein – und bedürftig. Das heißt, kein Vermögen über 5000 Euro zu besitzen.
Die meisten Einkommen liegen um 900 Euro. Christine Thoma arbeitete zeitlebens in der Gastronomie bis ihr klar wurde, dass sie 700 Euro Rente zu erwarten hätte: »Da ist mir schwindlig geworden.« Eine Wohnung hätte sie sich so nicht mehr leisten können. Freundinnen brachte sie auf die Idee, sich bei der Fuggerei zu bewerben. Was nicht selbstverständlich war, denn früher galt die Fuggerei als »Asozialensiedlung« mit geringstem Wohnstandard – heute haben alle Wohnungen Bäder. Thoma ging zum Sozialamt und ließ sich ihre finanziellen Verhältnisse bestätigen. Damit stellte sie einen Antrag bei der Stiftungsverwaltung.
Der ursprüngliche Stiftungszweck war, in Not geratenen Taglöhnern ein Dach über dem Kopf zu geben. Die Kaufmannsfamilie Fugger war im 15. Jahrhundert durch Tuchhandel und andere Geschäften enorm reich geworden. Stifter Jakob Fugger (1459 – 1525) sorgte sich um sein Seelenheil, indem er den Bewohnern der Fuggerei statt einer Miete drei Gebete pro Tag für seine Familie auferlegte – im Laufe der Jahrhunderte ist so ein erkleckliches Gebetskonto zusammengekommen.
Auch Christine Thoma erfüllt diese Pflicht: »Wenn ich nicht in die Kirche gehe, dann bete ich daheim.« Ansonsten bezahlt sie einmal jährlich die symbolischen 88 Cent, hinzu kommen 90 Euro Nebenkosten und 130 Euro für die Heizung, auch der Strom kommt noch hinzu. In der Nachbarschaft ist sie aktiv, jeden Dienstag organisiert sie das Frühstück im Gemeinschaftstreff.
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Warum wollen zu Beginn des 21. Jahrhunderts Menschen zu den Bedingungen wohnen, wie sie die Fuggerei anbietet – dazu gehört auch, dass die Touristen durch das Küchenfenster sehen? »Die Lage auf dem Wohnungsmarkt hat sich schon sehr verschärft«, sagt Stiftungssprecherin Astrid Gabler. Die Zahl der Bewerber auf die rund fünf Wohnungen, die jährlich frei werden, habe sich in den vergangenen drei Jahren verdoppelt, momentan stehen 100 Augsburger auf der Liste. In den 1970er und 1980er Jahren waren die Bewerbungen rückläufig, angesichts des sozialen Wohnungsbaus waren die Fuggerei-Wohnungen wenig attraktiv. So war der Fernsehempfang erst ab 1968 erlaubt – wenn die Antenne von außen nicht zu sehen war. 1973 wurden die ersten Bäder eingebaut.
Erst ab 1974 durften auch Alleinstehende einziehen, vorher war das nur für ältere Ehepaare möglich. Der soziale Wohnungsbau schuf damals wesentlich attraktivere Wohnmöglichkeiten ohne die Verpflichtung zum Gebet. Jetzt haben sich die Zeiten wieder gewandelt: Die Verschärfungen für die Kriterien für eine Erwerbsunfähigkeitsrente etwa und schließlich dann Hartz IV ließen die Bewerberzahlen wieder ansteigen.
Heute leben nicht mehr nur alte Menschen in der Siedlung. Stand Juli 2019 zählte man 103 Alleinstehende, acht Familien und acht Paare. Die Hälfte der Bewohner sind 66 Jahre oder älter, aber es gibt auch sechs Kinder und fünf Jugendliche. Für alle gilt: Sie müssen mit sehr wenig Geld auskommen. »Sparen ist immer ein Thema«, lautet so auch die Aussage auf einer Tafel im kleinen Museum der Siedlung. Dass die Bewohner mit ihren sozialen Anliegen nicht alleine gelassen werden, dafür sorgen zwei angestellte Sozialpädagoginnen.
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Eine Kuriosität gibt es noch: Nach 22 Uhr werden die Tore zur Siedlung geschlossen, wer raus oder rein will, muss dem Nachtwärter 50 Cent zahlen, nach Mitternacht einen Euro. »Ich fühle mich beschützt«, sagt Bewohnerin Thoma. Es ist wie die »Gated Communities« der Reichen (nicht für jeden zugängliche Stadtviertel), nur andersrum: Dort werden sie nicht hereingelassen, hier sind sie drinnen. Was früher wohl auch mit der Überwachung der Armen zu tun hatte.
Nach 500 Jahren Geschichte blickt die Stiftung – sie finanziert sich überwiegend durch Forstbesitz – in die Zukunft. »Next 500« heißt ein einjähriges Veranstaltungsprogramm, das am 23. August beginnt. Im Mittelpunkt steht die Idee, Unternehmen und Wohlhabende weltweit dazu anzuregen, eigene Fuggereien zu gründen. »Wohnungen statt Weltraumspaziergänge«, nennt Stiftungssprecherin Gabler das Anliegen.
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