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Land unter beim Flüchtlingsschutz
Auch 70 Jahre nach Inkrafttreten der Genfer Flüchtlingskonvention ist sie nur in Ansätzen verwirklicht
Es ist nur eine Meldung von vielen ähnlichen aus den letzten Jahren, hinter denen sich zahllose bittere Schicksale verbergen. Am Montagabend berichtete die Internationale Organisation für Migration (IOM) unter Berufung auf Überlebende vom jüngsten bekannt gewordenen Bootsunglück von Flüchtlingen im Mittelmeer. Vor der libyschen Küste sind dabei mindestens 57 Flüchtlinge ums Leben gekommen, darunter mindestens 20 Frauen und zwei Kinder. Das Boot war vor der östlich von Tripolis gelegenen Hafenstadt Al-Khums gekentert.
Bei den gefährlichen Überfahrten, mit der die Menschen Misere und Verfolgung in ihren Heimatstaaten zu entkommen versuchen, sind seit Jahresbeginn allein auf der zentralen Mittelmeerroute nach Angaben der IOM bereits 980 Personen ums Leben gekommen. Im vergangenen Jahr waren es im gleichen Zeitraum 270. Seit Januar wurden 18 000 Flüchtlinge bei dem Versuch, von Libyen aus in die EU zu gelangen, abgefangen und zurück in das Land gebracht, das für seine Haftlager berüchtigt ist, in denen Tausende Flüchtlingen unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht sind, und wo Misshandlungen an der Tagesordnung sind. Die Pandemie mit ihren Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft in den ärmeren Ländern wirkt als ein zusätzlicher Treiber von Flucht und Migration. Die über das Mittelmeer bildet dabei nur einen winzigen Ausschnitt eines global bestehenden Problems ab. Auf 82,4 Millionen Menschen schätzte die UN-Flüchtlingshilfe Ende 2020 die Zahl der Menschen, die sich weltweit vor Krieg, Konflikten und Verfolgung auf der Flucht befinden. Neben denjenigen, die Grenzen überwinden mussten, sind darin auch 48 Millionen Binnenvertriebene enthalten.
Der größte Teil von diesen musste vor wetterbedingten Naturkatastrophen fliehen, die auch auf den von den Industrienationen verursachten Klimawandel zurückzuführen sind. Mit den Problemen von Flucht und Migration konfrontiert sind in erster Linie Staaten mit niedrigem und mittlerem Einkommen und vor allem solche, die an Krisengebiete angrenzen. 86 Prozent der Flüchtlinge leben nicht in den in reichen Ländern des globalen Nordens. 2020 stieg die jährlich erfasste Zahl der weltweit auf der Flucht befindlichen Menschen nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR zum neunten Mal in Folge und befindet sich auf historischem Höchststand.
Es ist dieses Umfeld, in dem sich die Verabschiedung der Flüchtlingskonvention 28. Juli 1951 am europäischen Hauptsitz der UN in Genf nun zum 70. Mal jährte. Am 22. April 1954 war die internationale Übereinkunft in Kraft getreten. Die Weltgemeinschaft wollte damit Lehren aus den Tragödien von Verfolgung, Flucht und Vertreibung ziehen, die der Zweite Weltkrieg für Millionen zur Folge gehabt hatte. Menschen auf der Flucht sollten damit völkerrechtlich verbindlich Rechte garantiert werden. Auf die große Gruppe der Binnenflüchtlinge erstreckt sie sich allerdings nicht. Seit 1967 gilt die Konvention nicht nur für Menschen, die bis 1951 geflohen waren, sondern zeitlich unbefristet und geografisch unbeschränkt.
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Das »Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge« gilt für alle, die wegen ihrer »Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung« ihr Heimatland verlassen mussten. Es garantiert ihnen einen Anspruch auf rechtliches Gehör, den Flüchtlingsstatus und Schutz vor Diskriminierung und Abschiebung.
Die Bilanz nach 70 Jahren Genfer Konvention ist widersprüchlich, der Blick nach vorn besorgniserregend. 20,7 Millionen Menschen lebten 2020 unter dem Mandat des UNHCR. Die Situation der Mehrzahl der Flüchtlinge ist prekär und perspektivlos. Aus Anlass des Jubiläums kritisierte der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen Filippo Grandi die zunehmenden Verstöße gegen die Konvention als alarmierend. Dank des Abkommens seien Millionen Menschenleben gerettet worden, betonte der italienische Diplomat. Doch europäische und andere Länder würden immer öfter versuchen, sich ihren Verpflichtungen zu entziehen.
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Das zeigt sich gerade auch bei der Abschottungspolitik der EU und der Ankunftsländer von Migration am Mittelmeer. Zur Praxis illegaler Zurückweisungen durch die griechische Küstenwache kommen immer wieder Behinderungen der Arbeit von Hilfsorganisationen und die Kriminalisierung der von ihnen betriebenen Seenotrettung von Flüchtlingen. Während eine Reform der Asyl- und Migrationspolitik in der EU auf der Stelle tritt, wird der skandalöse milliardenschwere Flüchtlingspakt mit der Türkei fortgeschrieben, die mit ihrer expansiven Außenpolitik die Region destabilisiert.
Zum Jahrestag des Genfer Abkommens riefen Vertreter von Parteien, NGO und der Kirchen zur Verteidigung der Flüchtlingskonvention auf. Klare Worte fand auch Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU), der auf die sich durch den Klimawandel verschärfende Flüchtlingslage hinwies. Brüssel müsse »noch viel stärker zur Überwindung der Ursachen von Flucht und Vertreibung beitragen«, forderte Müller. Die Kürzung der EU-Mittel für die Entwicklungspolitik bezeichnete er als »skandalös«.
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