Impfen und wachsen

Die neue Virusvariante kann den Aufschwung bislang nicht stoppen - zumindest nicht in den Ländern, die über ausreichend Impfstoffe verfügen

  • Stephan Kaufmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Vom Wirtschaftswachstum hängt in der Marktwirtschaft alles ab - Jobs, Einkommen, Lebensstandard. In Deutschland läuft die Konjunktur derzeit wie geschmiert, die Unternehmen verdienen prächtig. Ob es so weitergeht, hängt allerdings vor allem an zwei Faktoren: In den reicheren Ländern müssen die Menschen bereit sein, sich impfen zu lassen. Und in den ärmeren Ländern müssen sie dazu in der Lage sein.

Weltweit erholt sich die Wirtschaft von der Coronakrise. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat diese Woche seine globale Wachstumsprognose für 2021 auf sechs Prozent angehoben. Gleichzeitig aber berichtet der Fonds von einer »wachsenden Spaltung«: Die reicheren Länder verbessern sich, die ärmeren fallen zurück. Entscheidender Grund ist die Verfügbarkeit von Impfstoffen, an denen derzeit angesichts der neuen Delta-Virusvariante die Konjunktur hängt.

In den reicheren Ländern sind laut IWF fast 40 Prozent der Bevölkerung durchgeimpft. In den Entwicklungs- und Schwellenländern sind es dagegen nur elf Prozent; und in den ärmsten Staaten »ist es nur ein winziger Teil der Bevölkerung«, so der Fonds. Vertieft werde die Spaltung zwischen globalem Norden und Süden zudem durch die unterschiedliche Finanzkraft: Während die reicheren Nationen bislang staatliche Unterstützungsmaßnahmen über 4,6 Billionen Dollar aufgelegt haben, sind im Süden die meisten Förderungen bereits 2020 ausgelaufen. Der IWF mahnt daher globale Anstrengungen an, um ärmeren Ländern den Zugang zu Impfstoffen und Testkapazitäten zu ermöglichen. »Dies würde zahllose Leben retten, die Verbreitung neuer Virusvarianten verhindern und Billionen Dollar an zusätzlichem Wirtschaftswachstum ermöglichen.«

Die Konjunktur in Nordamerika und Europa dagegen ist durch die Impffortschritte inzwischen weitgehend gegen Corona immunisiert. »Die ökonomischen Wirkungen des Virus sind von Welle zu Welle geringer geworden«, sagte diese Woche der US-Notenbankchef Jerome Powell. Das gilt auch für Europa: Wie am Freitag bekannt wurde, wuchs im zweiten Quartal 2021 die Wirtschaftsleistung der Eurozone um 2,0 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Für Deutschland betrug der Wert immer noch 1,5 Prozent - und das, obwohl im April und teilweise im Mai noch coronabedingte Restriktionen galten. Für das dritte Quartal wird ebenfalls ein starker Wert erwartet. »Die deutsche Wirtschaft strotzt derzeit nur so vor Kraft«, so die VP Bank.

Das beschert vor allem großen Unternehmen wachsende Profite: Bereits im ersten Quartal 2021 verdienten die 600 Unternehmen aus den europäischen Aktienindex Stoxx 600 doppelt so viel wie im Vorjahresquartal. Im zweiten Quartal sollen die Gewinne nochmals 120 Prozent und im dritten Quartal rund 40 Prozent steigen.

Getragen wird der Aufschwung in Deutschland aktuell vom privaten Verbrauch. Denn auf Grund der Einschränkungen im Zuge der Pandemie haben die Haushalte im Durchschnitt hohe Ersparnisse aufgebaut. Laut Commerzbank haben sie »zwischen Anfang 2020 und dem Ende des ersten Quartals dieses Jahres - in den meisten Fällen unfreiwillig - mehr als 160 Milliarden Euro mehr auf die hohe Kante gelegt«. Diese Ersparnisse fließen nun in den Konsum, der das Wirtschaftswachstum antreibt.

Gebremst wird der Aufschwung allerdings noch von der Industrie. Sie verzeichnet zwar schnell wachsende Aufträge. Doch können diese wegen weltweiter Materialknappheit und Stockungen im Seeverkehr nicht so schnell abgearbeitet werden. Grund für die Engpässe ist die rasante Erholung weltweit, die zu Staus in den Häfen und Mangel an Vorprodukten führt. Davon profitiert unter anderem die deutsche Chemieindustrie, die als Zulieferer für viele andere Branchen fungiert. Ihre Produktionsanlagen waren zuletzt mit 88 Prozent ausgelastet und damit so stark wie zuletzt im Wiedervereinigungs-Boom.

Die hohe Nachfrage nach Waren machen sich die Hersteller zu Nutze und erhöhen die Preise. In Kombination mit einigen Sonderfaktoren macht sich dies derzeit als Verteuerung der Waren bemerkbar: Im Juli stieg die Inflationsrate in der Eurozone von 1,9 auf 2,2 Prozent, in Deutschland sprang sie sogar von 2,3 auf 3,8 Prozent, dem höchsten Wert seit 2008. Diese Entwicklung der Preise halten Ökonomen allerdings für vorübergehend. »Für eine auch längerfristig spürbar über zwei Prozent liegende Inflationsrate müssten auch die Löhne anziehen, wofür es bisher noch keine Anzeichen gibt«, so die Commerzbank. Stärker steigende Löhne verhindert der relativ schwache Arbeitsmarkt, der die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften mindert. Marcel Fratzscher vom Wirtschaftsforschung DIW hält die aktuelle Inflationsrate daher für unproblematisch. »Die ungleich größere Sorge ist der starke Anstieg von Mieten in den Städten.«

Der Aufschwung dürfte noch eine Weile anhalten und das Wirtschaftswachstum im laufenden Gesamtjahr auf über vier Prozent treiben - vorausgesetzt, die Bevölkerung ist impfbereit. Denn nur dann führen selbst steigende Ansteckungen mit dem Coronavirus seltener zu schweren Krankheitsverläufen und damit nicht zu einer Überlastung der Gesundheitssysteme, womit neue Beschränkungen des öffentlichen Lebens vermieden werden können.

Als Haupt-Konjunkturrisiko nennen die Ökonomen der DZ Bank daher - neben dem Auftauchen neuer Corona-Mutanten - eine nachlassende Impfbereitschaft oder ein stockendes Impftempo. »Die Hoffnung bleibt, dass die fortgeschrittenen Ökonomien durch die laufende Infektionswelle kommen, ohne wirtschaftlich schädliche Restriktionen erlassen zu müssen«, so Holger Schmieding von der Berenberg Bank. »Großbritannien ist dafür derzeit der Testfall.«

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