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Bitte nicht nach Maine abbiegen!
Matthias Nawrats neuer Roman zeugt von einer Neuorientierung der Gegenwartsliteratur
Es wurde gestritten und gemahnt, es wurden düstere Dystopien entwickelt und große Gesellschaftsromane verfasst. Was die Gegenwartsliteratur der vergangenen Dekade kennzeichnete, war vor allem der Drang, sich in den politischen Diskurs einzumischen. Von BestsellerautorInnen wie Juli Zeh, Ilja Trojanow und Frank Schätzing bis hin zu jungen Stimmen, darunter Ann Cotten oder Dorothee Elmiger, reicht das weite Spektrum an Schreiber*nnen mit gesellschaftskritischem Anspruch. Die Gründe für ihren Erfolg liegen auf der Hand. Denn Zuspitzungen und sich beschleunigende Krisendynamiken gibt es, wohin man schaut - bei der Migration, beim Rechtsruck, beim Klimawandel etc.
Doch da die Geschichte immer sinuskurvenartig verläuft, folgt auf kraftvolle Einmischung in den öffentlichen Diskurs nun mitunter die Wiederentdeckung des Privaten, durchaus vergleichbar mit der Entstehung der »Neuen Subjektivität« in den 70er Jahren, deren Vertreter*innen sich mit ihrer Orientierung an der Alltagskultur deutlich von der Erhitzung der 68er-Generation abzusetzen suchten. Heute schreibt eine Judith Hermann in »Daheim« über eine sich ans Meer zurückziehende Frau in der Mitte des Lebens. Derweil erzählen Helga Schubert und Christian Kracht in ihren letzten Romanen von Auseinandersetzungen mit den Geschichten ihrer Mütter.
Überhaupt fällt auf, das die Figur der Mater verstärkt in den Fokus dieser neuen familiären Literatur gerät. So etwa auch im autobiografisch angelegten Werk von Matthias Nawrat. Geschildert wird von ihm die gemeinsam mit seiner Mutter unternommene - - titelgebende - »Reise nach Maine«. Nachdem beide in den USA angekommen sind, ereignet sich sogleich in New York ein Unfall. Denn die betagte Dame stolpert und fällt mit dem Kopf auf eine Tischplatte im Hotelzimmer. Die Folge: Krankenhausbesuch, zu allem Unglück noch ohne Auslandsversicherung. Als sie trotz gebrochener Nase wieder halbwegs auf dem Damm ist, beschließen beide, mit der eigentlichen Tour zu beginnen. Sie führt sie über Berge, entlang kleiner Ortschaften und Motels und letztlich auch ans Ziel.
Was erfahren wir? Reichlich wenig! Ausführliche Landschaftsbeschreibungen - wer braucht das schon in einem Buch über das Reisen? Ausgiebige Sozialstudie über das Leben in der Ferne? - Völlig überschätzt! Stattdessen gibt es Phrasen aus der Kategorie »Altbekanntes tut’s auch«: »Niemals wurden die Leute mehr oder weniger, nur die Hautfarben wechselten nach und nach«, erfahren wir - gänzlich überrascht - über das Treiben in der Subway. Großer Beliebtheit erfreuen sich in diesem Text auch Ratschläge zur Altersvorsorge und sicheren Jobalternative für mittellose Schriftsteller*innen sowie banale Seitenfüller à la: »Nachdem wir unsere Sachen ausgepackt hatten, verstaute meine Mutter noch Proviant im Kühlschrank. Sie erklärte mir, sie werde den Käse und die Butter in das mittlere Fach legen, den Paprika, die Karotten und den Kohlrabi in die Gemüseschublade; das Mineralwasser und ihr Bier gehörten in das Regal in der Tür.« Gut, dass zumindest diese Fragen geklärt sind!
Dabei hatte Matthias Nawrats Debüt noch so viel Talent bewiesen, stellt er doch in »Unternehmer« (2015) auf künstlerisch ambitionierte Weise die indoktrinierende Macht des all unsere Sinne vereinnahmenden Kapitalismus heraus. Von den ästhetischen Finessen und überhaupt der damaligen narrativen Energie ist in »Reise nach Maine« kaum etwas geblieben. Während viele Zeitgenoss*innen des 1979 in Polen geborenen Romanciers sich experimenteller Erzählformen mit Hang zum Fragmentarischen bedienen, nutzt er noch eine fast bieder anmutende lineare Darstellungsform: simpel und bilderarm. Angesichts dieser stilistischen Demotiviertheit hilft auf den letzten Seiten, die nach allerlei Kapriolen und Streitereien im Zeichen einer Mutter-Sohn-Versöhnung stehen, auch keine metaphysische Volte mehr. Denn der Hinweis, dass beide »weiterhin geborgen waren von einer höheren Struktur, die unser Leben nun mal darstellte«, läuft nach all den Kühlschrankbeschreibungen und flüchtigen Gesprächen auf der Überfahrt ziemlich ins Leere.
Selbst aus dieser literarischen Malaise lässt sich übrigens noch eine Erkenntnis für das gegenwärtige Interesse am Privaten gewinnen: Einen Mikrokosmos allein zu beschreiben, hat wenig Reiz. Selbst der Blick ins beschauliche Interieur bedarf einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn. Warum lohnt sich die Erforschung unserer Wohnzimmer? Was vermittelt uns das Dasein einer Figur in ihrem überschaubaren Bewegungs- und Denkradius? Und wie definiert sich das Private gerade in einer Epoche, die der Kulturtheoretiker Byung-Chul Han mit dem Terminus »Transparenzgesellschaft« überschreibt? Gibt es eigentlich noch Refugien außerhalb des Lichtkegels von Instagram und Facebook?
Gerade weil die modernen Medien und die Logik des Marktes zu einer Uniformisierung so vieler Lebensbereiche beigetragen haben, können Bücher, die uns mehr den einzelnen Menschen als gleich die ganze Welt vorstellen wollen, eine große Chance bieten. Sie vermögen, nicht nur das Einzigartige in den Mittelpunkt zu stellen, sondern zugleich Wege der Identitätsfindung durchzuspielen. Vielleicht war es nie zuvor so schwierig, sich selbst zu finden, da die uns umgebenden und prägenden Systeme derart komplex geworden sind und sich teilweise widersprüchlich zueinander verhalten. Fesselnd und klug gestaltete Texte können in dieser Gemengelage als ein Wegweiser fungieren. Nawrat führt uns leider in die Sackgasse. Aber zum Glück gibt es noch genügend vielversprechende literarische Abzweigungen.
Matthias Nawrat: Reise nach Maine. Rowohlt. 224 S., geb., 22 €.
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