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Zeitbomben am Grund der Flüsse

Freisetzung von Altlasten aus Sedimenten bei Hochwassern untersucht

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 5 Min.

Wenn sich - wie eben erst im Westen Deutschlands - Schlammfluten durch Städte und Dörfer wälzen, ist der sichtbare Dreck nur ein Teil des Problems. Mancherorts sogar das kleinere. Denn bei Hochwasser wirbeln die reißenden Flüsse auch Schadstoffe von ihrem Grund auf, die dort schon Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte geruht hatten. Eine Gefahr, die bislang weithin unterschätzt wurde, wie ein internationales Forschungsteam im »Journal of Hazardous Materials« deutlich macht. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Goethe-Universität Frankfurt, der RWTH Aachen, der kanadischen University of Saskatchewan und weiteren Partner*innen hatten dazu Untersuchungen von Hochwasserereignissen in der ganzen Welt analysiert.

Sedimente gelten als Langzeitgedächtnis eines Flusses. In der Hauptsache bestehen sie aus Partikeln, die auf dem Weg des Wassers zum und im Gewässer abgetragen werden. Vieles davon landet irgendwann in Flussdeltas oder im Meer - einer der Gründe, warum Häfen in Flussmündungen immer wieder ausgebaggert werden müssen.

Die Ablagerungen können jedoch auch für verhältnismäßig lange Zeit stabil bleiben. Die enthaltenen Huminstoffe und Tonmineralien können dabei Schwermetalle und auch organische Schadstoffe binden, die zum Beispiel durch Bergbau- oder Industrieabwässer in die Flüsse gelangt sind. Entsprechend befinden sich in vielen Altsedimenten der Flüsse Schadstoffe als »chemische Zeitbomben«, neben Schwermetallen auch schwer abbaubare Dioxine und dioxinähnliche Verbindungen. Bei Hochwasserereignissen besteht wegen der hohen Fließgeschwindigkeiten in den industriell geprägten Regionen Europas, Nordamerikas und Asiens immer das Risiko, dass diese belasteten Altsedimente aufgewühlt werden. Die dort gebundenen Schadstoffe werden auf einen Schlag freigesetzt und kontaminieren Flüsse und Überflutungsgebiete.

Ein Beispiel dafür ist die durch Sachsen und Sachsen-Anhalt fließende Mulde und ihre Zuflüsse im Raum Bitterfeld-Wolfen. Für eines der kleineren, hoch belasteten Flüsschen dort, das Spittelwasser, wurde schon in den 1990er Jahren von Wissenschaftlern eine Altlastensanierung vorgeschlagen, allerdings nie durchgeführt. Wie der Seniorautor der aktuellen Studie, der Umwelttoxikologe Henner Hollert von der Goethe-Uni in Frankfurt am Main berichtet, haben Untersuchungen nach dem Hochwasser an Elbe und Mulde im Jahre 2002 gezeigt, dass 90 Prozent der schadstoffbelasteten Sedimente aus dem Spittelwasser in die Mulde und dann in die Elbe geschwemmt worden waren. Gut für das inzwischen als Angelgewässer ausgewiesene Spittelwasser, schlecht für die Elbauen, wo beim Hochwasser ein Teil des Giftes abgelagert wurde.

Forscher*innen unter Federführung der Frankfurter Nachwuchsgruppenleiterin Sarah Crawford und dem kanadischen Forscher Markus Brinkmann haben bei der Auswertung vieler Detailstudien untersucht, welche Schadstoffbelastungen nach Überflutungsereignissen gemessen wurden, welche Testsysteme für verschiedene Schadstoffe entwickelt wurden und wie sich unterschiedliche Sedimente bei hohen Fließgeschwindigkeiten verhalten. Die Gefahren für die Trinkwassergewinnung werden ebenso geschildert wie etwa der Einfluss der Temperatur auf die Schadstoffaufnahme durch Fische und Methoden zur Bewertung der mit der Remobilisierung von Schadstoffen verbundenen ökonomischen Kosten.

Eine Gefährdung besteht bei Hochwassern ebenso für die inzwischen in den meisten Flüssen wieder heimischen Fische, die mit den aufgewirbelten Sedimentpartikeln Schadstoffe aufnehmen. Besonders fettlösliche Gifte wie die mehrfachchlorierten Biphenyle (PCB) und Dioxine werden in der Nahrungskette bis hin zu großen Vögeln und dem Menschen in gefährlichem Maße angereichert.

Hollert kritisiert: »Ich habe den Eindruck, dass das Problem der Schadstoffe aus den Altsedimenten in Deutschland und auch in Europa stark unterschätzt wird. Schadstoffbelastete Altsedimente sind aber eine tickende Zeitbombe, die mit jeder Flut hochgehen kann.« Gerade im dieser Tage stark betroffenen Nordrhein-Westfalen gebe es mannigfache Belastungen durch den zum Teil seit Jahrhunderten heimischen Bergbau. Der Umwelttoxikologe fordert systematische Untersuchungen und ein flächendeckendes Management der Flüsse, das nicht nur unmittelbare Gefahren für Menschen, Tiere und Bauwerke in den Blick nimmt, sondern auch die langfristigen Folgen durch die Altlasten in den Flussbetten.

»In unseren Fließgewässern kommen über 10 000 verschiedene Substanzen vor. Im Rahmen der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie zur Gewässerqualität werden davon aber nur etwa 44 Schadstoffe regulär untersucht.« Deshalb müssten Flüsse und landwirtschaftlich genutzte Überflutungsgebiete unbedingt mit Biotestverfahren und chemischen Analysen auf toxische Effekte gegenüber den wasserlebenden Organismen und die für den jeweiligen Fluss spezifischen Schadstoffe untersucht werden.

Das hat auch Folgen für die Maßnahmen zur Verringerung von Hochwasserschäden. Neben den Interessenkonflikten zwischen Trinkwassergewinnung, Landwirtschaft, Städtebau und Umweltschutz muss bei landwirtschaftlicher Nutzung flussnaher Areale darauf geachtet werden, dass sich die persistenten und toxischen Stoffe nicht auf Nutzflächen anreichern und in Form von Fleisch und Milchprodukten auf unseren Tellern landen. Regelmäßig überflutete Wiesen an belasteten Flüssen taugen dann eben höchstens als Weiden für Schafe, deren Wolle genutzt wird.

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