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- Linke und die ländliche Mittelschicht
Ab aufs Land
Kleinbürger aller Länder, vereinigt euch! Warum es höchste Zeit wird, dass die Linke die ländliche Mittelschicht entdeckt
Frank Sinatra sang 1968 »My Way« ein. Im gleichen Jahr veröffentlichte der US-amerikanische Wirtschaftsjournalist Ferdinand Lundberg das Buch »Die Reichen und die Superreichen«. Darin legte er dar, warum die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer würden. Diese Aussage wurde für die politische Linke, was »My Way« für Frank Sinatra wurde – die Erkennungsmelodie, nach der die Anhänger verlangten. Was aber, wenn jene, die man jenseits der Fangemeinde erreichen will, sich an der alten Leier sattgehört haben? Oder mit dem Lied noch nie etwas anfangen konnten?
Szenenwechsel: Trier im Jahr 2021. Karl Marx würde die Stadt, in der er 1818 geboren wurde und bis 1835 lebte, nicht mehr wiedererkennen. Damals, als der Autor des »Kommunistischen Manifests« hier zur Schule ging, war Trier ein Elendsquartier in der Provinz. Die Preußen, die seit 1815 über das Moselland herrschten, hatten die Grenze zu Frankreich dichtgemacht. Daraufhin brach der Handel zusammen. Die Winzer blieben auf ihrem Wein sitzen. Die Bevölkerung verarmte, Seuchen brachen aus.
Der Versuch, eine städtische Sondersteuer zu erheben, um ein Cholera-Lazarett zu finanzieren, scheiterte bereits im Vorfeld – bei Einkommenserhebungen hatte sich herausgestellt, dass nicht mal jeder fünfte Haushalt in der Lage war, die Steuer überhaupt zu zahlen. Dennoch wäre Marx’ Aufruf »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« in seiner Heimat verhallt: Wo keine Fabriken standen, gab es auch keine Industriearbeiter. Die Menschen, die hier darbten und hungerten, waren keine Proletarier, sondern Handwerker und Weinbauern.
Trier sollte arm bleiben. Selbst 150 Jahre später noch. Bis in die 1980er hinein hinkte die Stadt ökonomisch hinterher. Das gesamte Trierer Land galt als strukturschwach. Hier, am westlichen Zonenrandgebiet, waren die Löhne niedriger und die Arbeitslosenzahlen höher als in den meisten anderen Regionen der Bundesrepublik. 1986 warnte eine Studie, dass bei anhaltend schlechter Entwicklung sogar die Schließung der Universität drohen könnte. Kein unrealistisches Szenario. Viele junge Menschen wanderten nach dem Abitur in Großstädte wie Köln ab. Dort konnte man mehr erleben, und die beruflichen Aussichten waren weniger düster.
Jenseits der Grenze, beim Nachbarn Luxemburg, sah es anders aus. Seit den 70er Jahren ließen sich immer mehr internationale Banken im Großherzogtum nieder. Wo ehedem Stahl produziert worden war, bunkerten nun Privatanleger am Finanzamt vorbei ihr Geld. Selbst öffentlich-rechtliche Landesbanken wie die West-LB hatten in Luxemburg ihren Ableger und ermunterten Sparkassenkunden in Nordrhein-Westfalen, ihr Vermögen doch im benachbarten Ausland anzulegen. So war die West-LB, noch ehe sie im Zuge der Finanzkrise 2009 auch offiziell diesen Titel erhielt, eine »Bad Bank«.
Luxemburg konnte es einerlei sein. Selbst das schrittweise Schließen von Steuerschlupflöchern schadete dem Land nicht, weil es eine neue Nische entdeckte. Man eröffnete internationalen Investmentgesellschaften die Möglichkeit, unbürokratisch binnen weniger Wochen einen Fonds aufzulegen – in Deutschland kann dieses Prozedere schon mal ein Jahr dauern. So wurde ein Staat, der so klein ist wie das Saarland, zum größten Investmentfondsstandort Europas.
Mittlerweile liegt das Anlagevermögen bei über 5 Billionen Euro (zum Vergleich: Der deutsche Staat gibt 2021 nur ein Zehntel dieses Betrags aus). Von der Finanzstärke des Großherzogtums profitieren die Grenzgebiete Frankreichs, Belgiens und Deutschlands. Allein in der Region Trier kämpfen sich jeden Morgen 28 000 Menschen durch den Berufsverkehr nach Luxemburg. Nicht alle sind Banker. Auch für Handwerker, Techniker und Verkäufer lohnt sich die tägliche Grenzüberschreitung. Die Gehälter sind hier höher, die Sozialabgaben niedriger als auf der deutschen Seite.
Das Mehr an Kaufkraft kommt dem Trierer Land zugute. Vor allem in Grenzdörfern und Orten mit nahe gelegener Autobahnanbindung läuft der Zementmischer nonstop. Allerdings zu immer höheren Kosten. Die Preise für Bauland haben sich seit den 80er Jahren vervielfacht. Wo einst der Quadratmeter für 20 Mark, also 10 Euro, den Besitzer wechselte, sind heute 200 bis 400 Euro fällig.
Daran sind Luxemburger Staatsbürger nicht unschuldig. Immer mehr ziehen freiwillig ins einst ungeliebte Deutschland. Weil im Großherzogtum Immobilien mittlerweile so teuer sind wie in Tokio, bauen die »Schangen« (wie die Trierer die Untertanen des Großherzogs Jean titulieren) ihr Haus bei den »Preisen«, den Preußen (wie die Luxemburger die Deutschen etikettieren). 500 Quadratmeter Bauland für 125 000 Euro – das ist für Luxemburger ein Schnäppchen. Für die meisten Familien im Trierer Land ist es das nicht. Die Killerkombi aus explodierenden Grundstückspreisen und galoppierenden Materialkosten zerstört derzeit zahlreiche Träume vom eigenen Heim. Das Neue daran: Es sind Leute betroffen, die sich bisher auf der sicheren Seite wähnten – die Angehörigen der ländlichen Mittelschicht.
Diese Menschen konnten mit dem Satz »Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer« noch nie etwas anfangen. Denn in den Dörfern, auch den weniger florierenden, sind die meisten Einwohner seit jeher »steinreich« – sie besitzen ein aus Steinen gemauertes Haus. Dieses Betongold tröstete über den niedrigeren Lebensstandard hinweg. Wo fast alle mit wenig auskommen mussten, fielen ein paar Wohlhabende nicht weiter ins Gewicht. Selbst im Oberzentrum Trier gab es – mangels Reichen – keine klassischen Bonzenviertel. Die meisten Stadtteile waren gesellschaftlich gut durchmischt. In den Neubaugebieten der 60er und 70er Jahre befanden sich Hochhaus und Bungalow oft in der gleichen Straße.
Erst der Boom im Nachbarland sorgte dafür, dass bestimmte Baugebiete nur noch für Pendler und Luxemburger erschwinglich waren. Wer weniger Geld hatte, musste ins günstigere Hinterland ausweichen; mit der Folge, dass auch dort die Grundstückspreise nach oben schossen. So nahm der Verdrängungswettbewerb seinen Lauf. Und der Frust. Eigener Grund und Boden – für die Eltern und Großeltern noch selbstverständlich – rückt für den Nachwuchs in weite Ferne.
Diese Entwicklung, die in der Region Trier in extremer Form stattfindet, ist immer häufiger in den ländlichen Gegenden Deutschlands zu beobachten. Eigentlich müsste die politische Linke davon profitieren. Doch die Partei wird vor allem in den westdeutschen Bundesländern von städtischen Akademikern geprägt. Diesen urbanen Kosmopoliten ist die Lebenswelt des ländlichen, traditionell geprägten Kleinbürgertums zutiefst fremd, ja suspekt. Die Verachtung für die »Hinterwäldler« sitzt tief: »Bloß nicht so werden wie die!« Das geht bisweilen so weit, dass die Partei jenen in den Rücken fällt, die sie eigentlich unterstützen müsste. In Trier verhinderte im Sommer 2019 Die Linke gemeinsam mit den Grünen, den Freien Wählern, der AfD und Teilen der CDU ein Baugebiet, auf dem die Grundstücke nur halb so viel wie üblich hätten kosten sollen.
Mit solchen Aktionen verspielt Die Linke die Chance, die dringend benötigten neuen Wählerschichten für sich zu gewinnen. Dabei wäre es nie leichter als jetzt. Dem etablierten Kleinbürgertum schwimmen die Felle davon. Es fühlt sich von der CDU verlassen, von der SPD verraten und von den Grünen links liegen gelassen. Da könnte man einiges an Protestwählern abfischen.
Stattdessen nudelt Die Linke den Evergreen von den Reichen und den Armen rauf und runter. Wie zu Zeiten von Karl Marx kennt sie in erster Linie nur Kapitalisten und Proletarier, Ausbeuter und Ausgebeutete. Sie stellt – oftmals zu Recht – Immobilienkonzerne und großstädtische Hausbesitzer an den Pranger und übersieht dabei, dass den Familien auf dem Land zunehmend die Möglichkeit genommen wird, jemals Hausbesitzer zu werden. Diese Menschen haben keine Angst vor Mietwucher; sie haben Angst, sich nie ein Eigenheim leisten zu können.
Und sie werden von der Linken alleingelassen. Ein Versäumnis, das – nicht nur aus wahltaktischer Sicht – unverzeihlich ist. Dass es eine Mittelschicht gibt, diese Erkenntnis sollte sich 173 Jahre nach dem »Kommunistischen Manifest« langsam herumgesprochen haben.
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