• Politik
  • Sozialbericht der Bundesregierung

Der Sozial-Rekord

Die Sozialleistungen haben im vergangenen Jahr einen Höchststand erreicht. Ausgerechnet die Ausgaben der Krankenversicherung sind dabei geringer gestiegen als vor der Pandemie

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 5 Min.

Betrachtet man die Tabellen im neuen Sozialbericht der Bundesregierung, kommt man nicht unbedingt darauf, dass es eine neue Infektionskrankheit war, die Anfang vorigen Jahres in Deutschland und anderswo eine Krise ausgelöst hat. Dem Bericht zufolge sind 2020 die Leistungen zur Behandlung von Krankheiten um 4,5 Prozent gestiegen. Damit war der Anstieg geringer als vor der Pandemie. Um 100 Prozent in die Höhe geschnellt sind hingegen die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung.

Insgesamt haben die Sozialleistungen einen Rekordwert erreicht: Sie betrugen im vorigen Jahr mehr als 1100 Milliarden Euro, das entspricht 33,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. So hoch war der Anteil im wiedervereinigten Deutschland noch nie, auch nicht in der großen Wirtschafts- und Finanzkrise 2009, als er erstmals über 30 Prozent stieg.

Sozialschutz im EU-Vergleich
  • Höhere Sozialleistungen finden sich eher in reicheren Ländern. Das zeigt ein EU-Vergleich für 2018 und ist nicht so überraschend, auch wenn Marktliberale gern Sozialausgaben als wirtschaftliches Problem darstellen. So lag Frankreich mit Sozialleistungen in Höhe von fast 34 Prozent der Wirtschaftsleistung an der Spitze. Es folgen Dänemark, Finnland und Deutschland (rund 30 Prozent). Österreich, die Niederlande und Italien liegen knapp dahinter. Sehr niedrig ist der Anteil der Sozialleistungen in Rumänien (rund 15 Prozent), Malta, den baltischen Staaten und Bulgarien. Eine große Ausnahme ist Irland, das trotz hohem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf die niedrigste Sozialleistungsquote (14 Prozent) hatte.
  • Die Sozialleistungen für alte Menschen und Arbeitslose sind in Deutschland im europäischen Vergleich relativ niedrig und liegen unter dem EU-Durchschnitt. Etwas höher sind die Ausgaben wegen Krankheit und Invalidität. rt 

Die gestiegenen Sozialleistungen haben diesmal keine größere Debatte ausgelöst, was ungewöhnlich ist und am Wahlkampf liegen mag und daran, dass Politiker wissen, wie wichtig soziale Sicherheit für die meisten Menschen ist. FDP-Chef Christian Lindner war einer der wenigen, die sich zu Wort meldeten. Die Entwicklung sei »alarmierend«, befand er, denn »Staatskonsum schafft keine neuen Jobs«.

Dabei ist es nicht »der Staat«, der mit den Milliarden Euro einkaufen geht, vielmehr zahlen Menschen mit dem Geld ihr Essen und ihre Miete und Krankenkassen die Behandlung von Patienten. Der am Mittwoch vorgelegte Sozialbericht gibt einen Einblick, woher die Milliarden kommen und wer sie erhält. Bei den Kosten fürs Gesundheitswesen zeigt sich zudem: Hinter der unspektakulär erscheinenden Entwicklung verbergen sich massive Änderungen, aus denen bereits erste Lehren gezogen werden.

Der Weg des Geldes

Schaut man sich an, wohin die Sozialleistungen fließen, haben zwei Bereiche seit Jahren die mit Abstand größte Bedeutung: 43 Prozent der Mittel werden verwendet, um kranke Menschen zu behandeln, ihre Lohnfortzahlung sicherzustellen und Personen zu unterstützen, die wegen Invalidität beeinträchtigt sind. Weitere 37 Prozent erhalten alte Menschen und Hinterbliebene als Renten oder Pensionen. Mit weitem Abstand folgen Hilfen für Kinder und Arbeitslose.

Die Mittel dienen also im Wesentlichen der Gesundheitsversorgung und kommen Menschen zugute, die kein Erwerbseinkommen erzielen, weil sie alt, gebrechlich oder zu jung sind oder entlassen wurden. Damit erfüllen sie eine Kernaufgabe des Sozialstaats, der gewährleisten soll, dass auch Arme zum Arzt gehen und Menschen ohne Erwerbseinkommen ihr Leben einigermaßen bestreiten können.

Finanziert werden die Sozialleistungen zum Großteil aus Beiträgen, die auf Löhne und Gehälter erhoben werden und die seit Jahren insgesamt bei rund 40 Prozent der Arbeitskosten liegen, wenn man Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile zusammenzählt. Die Erwerbstätigen finanzieren also aus ihren Vergütungen ihren Schutz bei Arbeitslosigkeit, im Alter und bei Krankheit. Hinzu kommen Mittel aus Steuern, mit denen rund ein Drittel der Ausgaben bezahlt werden, etwa Bafög und Hartz IV.

Zwischen 2000 und 2019 sind die Sozialleistungen gemessen am Bruttoinlandsprodukt nur gering gestiegen, von knapp 29 auf gut 30 Prozent. Im vorigen Jahr lag der Anteil mit 33,6 Prozent dann deutlich höher.

Stärke und Schwäche des Sozialstaats

Durch die Einschränkungen wegen der Pandemie konnten Millionen Beschäftigte ab Frühjahr 2020 nicht mehr arbeiten, weil Kinos und Theater, Kneipen und Hotels, Geschäfte und Frisörsalons dicht machen mussten. Auch Industriebetriebe waren stillgelegt, weil Material fehlte. Um die finanziellen Einbußen abzumildern, erhöhte die Bundesregierung das Kurzarbeitergeld, verlängerte das Arbeitslosengeld und beschloss, dass neuen Hartz-IV-Empfängern ihre Wohnkosten bezahlt werden, unabhängig davon, wie hoch sie sind. Das trieb insbesondere die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung in die Höhe, sie verdoppelten sich auf mehr als 56 Milliarden Euro.

Allein für Kurzarbeitergeld und die Erstattung der Sozialbeiträge gab die Bundesagentur für Arbeit 22 Milliarden Euro aus. Das war weitaus mehr als in der großen Wirtschafts- und Finanzkrise 2009, als die Ausgaben bei 4,6 Milliarden lagen.

Die Rekordaufwendungen haben vielen Beschäftigten geholfen und die gesellschaftliche Krise etwas abgefedert. Man stelle sich nur vor, ein Großteil der sechs Millionen Menschen, die allein im April 2020 Kurzarbeitergeld erhielten, wäre entlassen worden.

Allerdings zeigen die Pandemie-Erfahrungen auch, dass sich in der Krise trotz sozialstaatlicher Leistungen Ungleichheiten verschärfen. So ist es für relativ anständig entlohnte Industriearbeiter einfacher, eine Zeit lang mit Kurzarbeitergeld zurechtzukommen, erst recht, wenn es per Tarifvertrag aufgestockt wird. Viele gering vergütete Beschäftigte im Gastgewerbe erhielten dagegen nur minimale Beträge. Die Bundesregierung griff den Vorschlag, ein Mindestkurzarbeitergeld zu zahlen, nicht auf. Für Solo-Selbstständige gibt es noch gar keine eingespielten sozialstaatlichen Krisenhilfen. So erhielten etliche zwar Unterstützung. Doch jetzt berichten Künstler, dass sie die Soforthilfen zurückzahlen sollen, nachdem die Bedingungen geändert wurden.

Pandemie und Patienten

Was die Pandemie im Gesundheitswesen ausgelöst hat, lässt sich indes nicht erahnen, wenn man die Gesamtausgaben in dem Sozialbericht betrachtet. Denn hinter dem moderaten Anstieg verbergen sich gegenläufige Entwicklungen.

Gerade das Klinikpersonal musste mit einer neuen Infektionskrankheit umgehen, viele Beschäftigte waren völlig überlastet. Covid 19 trieb auch die Kosten in die Höhe. So hat der Bund die Schaffung von Intensivbetten mit hohen Summen gefördert, was der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) inzwischen zwiespältig bewertet. Der Aufbau von Intensivkapazitäten habe zwar größere Versorgungssicherheit in der Pandemie geschaffen, so der Verband. Er sei aber weitgehend planlos verlaufen: »Jedes Krankenhaus konnte Intensivbetten aufbauen, egal ob es dafür geeignet war oder nicht.« Für den Fall weiterer Pandemiewellen sollte der Versorgungsauftrag der einzelnen Krankenhäuser genauer definiert werden.

Gleichzeitig hat die Pandemie zu geringeren Ausgaben geführt, nicht nur, weil planbare Operationen wie Hüftimplantationen verschoben wurden und kaum jemand an Grippe erkrankt ist. Es gab auch weniger Behandlungen von Notfällen wie Herzinfarkten, berichtet das Wissenschaftliche Institut der AOK, was bedenklich ist. Zudem wurden weniger Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Asthma und Diabetes stationär behandelt, so das Institut und bemerkt: Möglicherweise führe die Pandemie dazu, dass solche Leiden künftig - wie in anderen Ländern - öfter ambulant behandelt werden.

Aus den Pandemieerfahrungen lassen sich Schlussfolgerungen ziehen, wo der Sozialstaat gut funktioniert und wo nicht. Wer nur die Höhe der Ausgaben bemängelt, ist daran nicht interessiert und hat sich schon festgelegt auf Sozialabbau.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.