- Kultur
- Afrodeutsche Literatur
Ausdrücken, was noch keine Worte gefunden hatte
Vor 25 Jahren hat sich die Dichterin, Aktivistin und Pädagogin May Ayim das Leben genommen
Bei ihren Auftritten breitete sie ihre Arme aus, hob und senkte sie. Es war, als würde sie mit ihren Händen die Zeilen ihrer Gedichte unterstreichen. Vielleicht wollte sie so das Verstehen erleichtern, die Bedeutung ihrer Worte betonen. Versunken in die Melodie ihrer Poesie folgte sie ihren Worten mit dem Körper.
Ich erinnere mich an die Dichterin und Pädagogin May Ayim (1960–1996) als gleichermaßen zurückhaltende wie gewinnend lächelnde junge afrodeutsche Frau, die eine natürliche Autorität ausstrahlte. In einem gemeinsamen Projekt von West- und Ostfrauen unter dem Motto «Frauen im geeinten Deutschland» haben wir Anfang der 90er Jahre an der Berliner Alice-Salomon-Fachhochschule zusammengearbeitet. Ihre Ausstrahlung hatte für mich etwas geheimnisvoll Unergründbares. Faszinierend ihr feiner und zugleich scharfsinniger Humor und vor allem der Klang ihrer Stimme – und die Art, ihre Gedichte zu präsentieren.
May Ayim, die mit bürgerlichem Namen Sylvia Brigitte Gertrud Opitz hieß, wurde 1960 in Hamburg geboren. Ihre Mutter war eine weiße Deutsche, ihr Vater Austauschstudent aus Ghana. Kurz nach ihrer Geburt wurde sie in ein Heim gegeben und mit 18 Monaten von einer deutschen Familie adoptiert, in der sie mit vier weißen Geschwistern in Münster aufwuchs. Schon früh machte sie Erfahrungen mit dem die deutsche Gesellschaft prägenden Rassismus. Sie studierte Pädagogik, absolvierte später eine Ausbildung zur Logopädin und arbeitete unter anderem als Lehrbeauftragte an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin. Sie gehörte 1985 zu den Gründer*innen der Initiative Schwarze Deutsche und Schwarze in Deutschland (ISD) und beteiligte sich an der Anthologie »Farbe bekennen«. Gemeinsam mit anderen Frauen prägte sie den Terminus »afrodeutsch« als Selbstbezeichnung. May Ayim war in der Frauenbewegung aktiv, schrieb Essays und veröffentlichte mehrere Bände mit Gedichten, die sie bei Performances frei vortrug.
Die afrodeutsche Künstlerin Katharina Oguntoye beschreibt die Einzigartigkeit von May Ayim mit folgenden Worten: «Mays Vortragskunst erinnert an die Tradition der Griots, der afrikanischen Sänger*innen und Geschichtenerzähler*innen. Ihr Vortrag war eine Mischung aus Spoken Word und Performance. Sie trug ihre Gedichte auswendig mit einer ihr ganz eigenen Emphase vor, die durch ihre Authentizität überzeugte. Während sie vortrug, hatte sie eine große Präsenz. Sie war enorm identifiziert – fast eins mit ihren Gedichten. May gab viel, vielleicht alles. Zeigte ihr Innerstes. May wollte sichtbar machen, was nicht gesehen wurde. Wollte in Worten ausdrücken, was noch keine Worte gefunden hatte.»
Und Maryse Condé, französische Schriftstellerin mit karibischen Wurzeln, erinnert sich so an May Ayim: «Im Institut Français erweckte die junge Frau, die die Aufgabe hatte, mich dem Publikum vorzustellen, meine Aufmerksamkeit. Warum? Ihre Jugend. Und ihre Stimme. Eine Stimme mit den Spuren sehr alter, noch offener Wunden. Auch ihre Erscheinung. Leise schmerzend, wie die Stimme. Ich hörte ihre Poesie. Mit dem unverkennbaren Klang ihrer Stimme sprachen mir ihre Gedichte von ihr, erzählten von anderen, die ihr ähnlich und doch so unähnlich sind, in Deutschland, in Afrika, in Amerika. In diesen Gedichten war Leidenschaft und Ironie und stets eine große Anziehungskraft. Die Stimme: jung und sehr alt. Während ich zuhörte, begegnete ich aufs Neue der Entschlossenheit ihres Engagements; denn auch ihr Witz, ihre Wortspiele und Pointen verschleiern nie die Stärke ihres Protests gegen Rassismus und Sexismus».
May Ayim und ich sind einander in einer Zeit begegnet, die heute als «Baseballschlägerjahre» bezeichnet wird. May Ayim hat die rassistischen Zuspitzungen jener Jahre nach dem Mauerfall geradezu seismografisch registriert und reflektiert.
Sich heute durch ihr Erbe hindurchzuarbeiten, lässt die Dimensionen ihres intensiven Denkens und tiefgehenden Fühlens genauer verstehen. «Das Thema Rassismus ist anstrengend. Damit kommt die weiße Gesellschaft nicht klar», sagte Celine Barry, Berliner Beraterin Schwarzer Menschen bei Diskriminierungsfällen, im nd-Interview. So entstehe «Feindseligkeit gegenüber Schwarzen Menschen».
Auch 25 Jahre nach May Ayims Tod ist Rassismus allgegenwärtig. Die Schatten unserer Vergangenheit heißen Sklaverei, Kolonialismus und Genozid. Sich mit Ayims Schaffen zu beschäftigen, ermöglicht das Sehen und Begreifen einer Schwarzen Künstlerin und ihrer vielfältigen Ausdrucksformen. Vor allem die zahlreichen im Internet verfügbaren Videos mit ihren Interviews und ganz besonders die starke Performance ihrer Dichtung – was für ein Schatz an weit über die Worte hinausweisenden Gefühlen und Gedanken.
In ihrem kurzen Leben hat May Ayim einen unschätzbaren Beitrag zu antirassistischen Kämpfen in Deutschland geleistet. Seit 2010 gibt es in Berlin–Kreuzberg eine nach May Ayim benannte Straße. Auch eine andere große Schwarze Künstlerin, Wissenschaftlerin und Dichterin wird demnächst Namensgeberin für eine Straße im gleichen Bezirk sein: Audre Lorde (1934–1992). Vorausgegangen waren viel Aufklärungsarbeit und lange kontroverse Debatten in der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg. Beiden Künstlerinnen sind Dokumentarfilme gewidmet: «Audre Lorde – Die Berliner Jahre 1984-1992» und das May-Ayim-Porträt «Hoffnung im Herz» von 1997.
Bis heute werden die Gedichte von May Ayim in verschiedensten Kontexten gelesen und vorgetragen. 2019 hat die schleswig-holsteinische Landtagsvizepräsidentin Aminata Touré bei ihrer Antrittsrede Zeilen aus dem Gedicht «grenzenlos und unverschämt» zitiert: «ich werde trotzdem/ afrikanisch/ sein/ auch wenn ihr/ mich gerne/ deutsch/ haben wollt/ und werde trotzdem/ deutsch sein/ auch wenn euch/ meine schwärze/ nicht passt.»
Vor 25 Jahren, am 9. August 1996 nahm sich die Schwarze Dichterin, Aktivistin und Pädagogin sowie Mitbegründerin der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und Forscherin zu Schwarzer deutscher Geschichte das Leben. Aus diesem Anlass geben nun drei Freundinnen und Weggefährtinnen von May Ayim – die Professorin Nivedita Prasad, die langjährige Lehrbeauftragte an der Alice-Salomon-Hochschule Ika Hügel-Marshall und die emeritierte Professorin Dagmar Schultz – den Sammelband «May Ayim. Radikale Dichterin, sanfte Rebellin» heraus. Das Buch enthält 20 bislang unveröffentlichte Gedichte und Erinnerungsbeiträge von Familienmitgliedern, Freund*innen, Kolleg*innen und Mitstreiter*innen.
Ika Hügel-Marshall/ Nivedita Prasad/ Dagmar Schultz (Hg.): May Ayim. Radikale Dichterin, sanfte Rebellin«, Unrast Verlag, br., 304 S.,br. 19,80 €.
Bianca Tänzer ist Musikerin und promovierte Musikwissenschaftlerin
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.