Dort wandern, wo alle fahren

Was von den Autostädten der USA übrig blieb: Für »Rost« hat Florian Neuner sie »psychogeographisch« bereist

  • Katharina Riese
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer gerne im Mittelpunkt steht, sollte sich zum Fountain Square, dem Epizentrum der Innenstadt, mit seinem beeindruckenden Brunnen begeben.» Ein guter Tipp von Florian Neuner in seinem neuen Buch «Rost» – für die deutschsprachigen Leserinnen und Leser nur nicht gerade vor der Haustür, sondern bezogen auf das ferne Cincinnati in Ohio. Für die einen ist es die «Queen City», weil sie vor der Autoindustrie gegründet wurde und sogar eine Altstadt hat. Für die anderen, in Hinblick auf die sozialen Verwerfungen, ist sie eine «Schule der Mörder». Groß ist die Zahl der schmückenden Beiwörter für diese US-Metropolen, aus denen die Industrie weg- und in «Billiglohnländer» weitergezogen ist: Wrackstadt, Pleitemonopole, Geisterstadt ...

«Rost» ist nicht die erste Auseinandersetzung Neuners mit postindustriellen Ruinen und Brachen. 2009 war von ihm «Ruhrtext. »Eine Revierlektüre« erschienen. Sein neues Buch nimmt uns mit auf eine spannende Reise durch vier der unter den Sammelbegriff »Rusty Belt« (Rostiger Gürtel) fallenden Städte: von Pittsburgh über Cincinatti und Cleveland nach Detroit, der wracksten aller Wrack-Cities.

Neuners Konzept: Orte und Nicht-Orte – letzterer Begriff stammt von dem französischen Antropologen Marc Augé (für Einkaufszentren, Bahnhöfe, Flughäfen) – nicht nur anzuschauen, sondern zu versuchen, sie zu »lesen«. Der Autor widersteht der Versuchung großer Zusammenschauen, Deutungen und griffiger Erklärungen; er überlässt die Pointen seinen Funden, ergänzt höchstens durch lakonische Zwischenbemerkungen.
Wer spricht? Der Autor figuriert im Textfluss in der dritten Person als »Reisender«, »Wanderer«, »Stadtwanderer« und/oder als »Flaneur«. Diese Zurücknahme heißt aber nicht, dass der Erzähler im Text nicht spürbar wird. Er ersetzt beispielsweise durchgängig »und« durch das Et-Zeichen »&«, nutzt die Schreibweise »banquerotte« statt des landläufigen »Bankrotts« oder »usf.« statt »usw«. So setzt der Autor Signale seiner Anwesenheit als ästhetische Instanz.

Den Anstoß zu seinem literarischen Reisebericht erhielt Neuner durch den US-amerikanischen Vorwahlkampf um die Präsidentschaft im vergangenen Jahr. »Im Musikclub The Loving Touch in Ferndale finden sich (...) die Unterstützer Bernie Sanders ein. Der Reisende ist in der Hoffnung nach Ferndale gekommen, hier zusammen mit den Sympathisanten dem Triumph, dem endgültigen Durchbruch auf seinem Weg zur Präsidentschaftsdiktatur beizuwohnen.« Neuner macht keinen Hehl daraus, wem er die Daumen drückt. Der spätere Wahlsieger Joe Biden findet im Text, sehr im Unterschied zu Sanders, nur einmal Erwähnung: als »seniler ehemaliger Vizepräsident«.

Geflochten ist Neuners Text aus zwei getrennten Erzähl- bzw. Reportagesträngen, die mit unterschiedlichen Schriftarten kenntlich gemacht sind. Während die »Itinerarien« die subjektiven Erlebnisse an den einzelnen Stationen der Reise schildern, gewähren spezielle Features zu den einzelnen Schauplätzen Einblicke in die Lokalgeschichte. Bekannte Namen finden so ihre topografischen Zuordnungen.

Die Genrebezeichnung »Expedition« für die in »Rost« vorexerzierte Fortbewegung, teils mit öffentlichen Verkehrsmitteln, größtenteils aber zu Fuß, scheint berechtigt: In einem urbanem Gelände zu »wandern«, das für Autos und nicht für Fußgänger erbaut wurde, wo mehrspurige Autobahnen die Städte, zusammen mit den Flüssen, in »Welten« teilen, erfordert besondere Fitness.

Für einen mit »Einkehrmöglichkeiten« und »Altstädten« verwöhnten Europäer ist das eine zusätzliche Herausforderung – aber wer, wenn nicht ein Europäer, sollte auf die Idee kommen, durch solche Städte zu Fuß zu gehen?

Neuners Reise kulminiert nicht von ungefähr in Detroit: Aufstieg und Fall der einstigen »Motor-City«, aufs Engste verbunden mit dem Konzern Ford. Detroit ist ein trauriges Modell dafür, was passiert, wenn Unternehmer ihre Belegschaft ohne Perspektive, also im Stich lassen. Doch das Leben geht – noch beschädigter als durch unmittelbare Ausbeutung – weiter, muss weitergehen, aber wie? Gibt es Aufwind durch eine Ästhetik des Kaputten?

Charles Bukowski wird hier zitiert, der darauf hinwies, dass große Kunst auf billigen Mieten basiere. Jedoch, wie die Erfahrung lehrt, sind die ehemals verschrienen Quartiere von Künstlern und Künstlerinnen mittlerweile aufgewertet, »Immobilienentwickler« werden angelockt: »Gentrifizierung« – dieser Begriff kommt in »Rost« des Öfteren vor. Noch ist es im Rusty Belt nicht so weit, aber bald. Ausgerechnet Ford, der Konzern, dem Detroit seine jahrzehntelange Verelendung verdankt, kommt nach Detroit zurück. Der Plan: Aus den Trümmern des ästhetisch vorbildlich verwitterten Bahnhofs ein »Zukunftszentrum« zu gestalten.

Um mit Paul Cézanne zu sprechen: »Man muss sich beeilen, wenn man etwas sehen will, alles verschwindet.« Florian Neuner hat sich beeilt – und auch etwas gesehen. »Rost«, Seite 141: »Auf einem schmalen Haus, in dem irgendwann einmal mit Autoteilen gehandelt worden sein muß, hatte sich ein Rest der Aufschrift ›AUTO PARTS‹ erhalten, große rote Lettern: UTO & P. Der Künstler hatte hinter dem P die Buchstaben I & A ergänzt & so aus dem Bild des Verfalls einen anrührenden Funken geschlagen.«
»Rost« ist eine »psychogeographische Expedition«, ein schönes und wichtiges Buch für alle, die an unserer urbanen und sozialen Zukunft interessiert sind.

Florian Neuner: Rost. Eine Psychogeographische Expedition. Ritter-Verlag, 207 S., br., 18,90 €.

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