»Biden hat viele Erwartungen in Kuba enttäuscht«

Historiker Rainer Schultz über Proteste und Alltag auf der Karibikinsel sowie die Initiative zur Aufhebung der Blockade

Die Folgen der zuletzt von US-Präsident Donald Trump 2020 noch verschärften Blockade und die Coronakrise führten in Kuba jetzt zu der schlimmsten Wirtschaftskrise seit den 90er Jahren. Am 11. Juli kam es zu landesweiten Protesten, bei denen auch staatliche Einrichtungen zerstört und Supermärkte geplündert wurden. Oberflächlich scheint sich die Lage beruhigt zu haben. Ist es nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm?

Ich halte neue Proteste durchaus für denkbar, wenn sich die Versorgungslage nicht dauerhaft und spürbar verbessert. Sie ist weiterhin prekär. Die langen Schlangen vor den Geschäften sind für viele unerträglich. Es wird mit einigen Erlassen an einer Besserung gearbeitet, zum Beispiel können nun unbegrenzt Lebensmittel und Medikamente eingeführt werden, die staatlichen Höchstpreise auf den lokalen Bauernmärkten, die viele davon abhielten, überhaupt noch zu liefern, wurden abgeschafft. Dem Parlament liegt nun ein Gesetzesentwurf vor, den ich einsehen konnte, nachdem kleine und mittlere Unternehmen zugelassen und reguliert werden.

Rainer Schultz
Rainer Schultz
Rainer Schultz hat an der Harvard-Universität zu Kuba promoviert. Der Historiker leitet in Havanna das einzige US-geführte Wissenschaftszentrum in Kuba. Schultz hat eine Petition mitinitiiert, die Deutschland dazu bewegen soll, aktiver gegen die Blockade der USA vorzugehen. Die Petition wurde dem Auswärtigen Amt mit über 73 000 Unterschriften übergeben. Mit ihm sprach für »nd« Martin Ling.

Viele dieser Maßnahmen, genauso wie die jüngste Währungsreform waren bereits seit dem sechsten Parteitag 2011 beschlossen. Ihre Umsetzung erfolgte aber nur schleppend, viele fragen sich, warum. Klar ist, dass der Übergang von einem Staatssozialismus des 20. Jahrhunderts zu einem neuen nachhaltigen Sozialismus mit marktwirtschaftlichen Elementen unter belagerungsähnlichen Umständen weit widersprüchlicher und schwieriger ist als zunächst gedacht. Ist Sozialismus in einem Land, zumal einer Insel vor den USA, überhaupt machbar?

Wie sehr leidet Kuba unter Corona?

Bis zu einer spürbaren Verbesserung der Lage dürfte es noch Monate dauern. Sicherlich wird dabei die auf Hochtouren laufende Impfkampagne mit den hausgemachten und effizienten Impfstoffen helfen, sodass nach dem Sommer auch wieder mehr Bewegung im Lande und auch mehr Tourismus nach Kuba möglich ist. Die Mortalität in Kuba an Covid-19 ist trotz derzeitig besorgender Fallzahlen 150 Prozent niedriger als im lateinamerikanischen Durchschnitt. Dies ist Kubas flächendeckendem Gesundheitssystem zu verdanken, das trotz großer Engpässe derzeit – auch wegen der US-Sanktionen – bereits über zehn Millionen Impfdosen verabreicht hat.

Es ist aber auch wieder deutlich ruhiger auf den Straßen Kubas geworden. Das liegt einerseits an der Polizeipräsenz. Aber andererseits auch daran, dass viele Kubaner wieder in ihren Pandemiealltag zurückgekehrt sind, zur Arbeit in den Krankenhäusern, in der Lebensmittelproduktion und anderen wichtigen Bereichen.

Ist es mit den Erlassen zur Verbesserung der Versorgungslage getan?

Nein. Es handelt sich ja um ein strukturelles Problem, das sich nicht per Dekret lösen lässt. Einerseits hat der kubanische Staat durch eineinhalb Jahre fast 40 Prozent Einnahmenausfälle infolge der Coronapandemie zu wenig Devisen, um ausreichend Lebensmittel, Medizin, etc. zu importieren, und zum anderen gibt es auch eine Art Reformstau, innere Blockaden, die dazu führen, dass im Land nicht genügend Lebensmittel produziert werden oder bei der Bevölkerung ankommen. Die letzten beiden Punkte sind durch die Proteste bei den Behörden deutlicher denn je als Problem angekommen. Raúl Castro hatte ja bereits 1994 bei den großen Protesten gesagt, die Ernährungssouveränität ist eine Frage der nationalen Sicherheit. Damals wurde auf den Maleconazo im August 1994 im heißen tropischen Sommer bei langen Stromausfällen und prekärer Versorgungslage direkt mit Reformen reagiert: Es kamen die freien Bauernmärkte, der Dollar wurde zähneknirschend legalisiert, die Privatwirtschaft ausgebaut. Jetzt könnte wieder ein Moment sein, indem Reformvorhaben umgesetzt werden. Viele wurden ja bereits erarbeitet. Von den 2011 verabschiedeten Leitlinien der Partei sind aber bisher nur rund 30 Prozent umgesetzt worden. Die Proteste könnten nun als Katalysator für die Umsetzung wirken.

Der Einnahmenausfall beruht auf dem Einbruch beim Tourismus und bei den von Trump massiv eingeschränkten Möglichkeiten der Überweisungen an Familienangehörige, der sogenannten remesas, oder?

Ja, unter Obama wurden die Überweisungen zunächst freigegeben, sie waren unbegrenzt möglich. Trump hatte sie bereits 2019 auf maximal 1000 US-Dollar im Quartal beschränkt. Vor allem ist es praktisch aber fast unmöglich, Geld aus den USA auf die Insel zu überweisen, Western Union wurde es verboten, mit Kuba Überweisungen zu tätigen. Selbst die meisten deutschen Banken beugen sich den US-Maßnahmen. Natürlich sind Kubaner kreativ, es wurde immer viel Bargeld auch im Koffer einfach mitgebracht. Dies ist aber angesichts des eingeschränkten Flugverkehrs in Pandemiezeiten kaum noch möglich. Außerdem führte Trumps Abschiedsgeschenk an die Exilkubaner, die Insel wieder auf ihre berüchtigte Terrorliste zu setzen, auch dazu, dass es kubanischen Banken praktisch unmöglich ist, US-Dollar für dringend notwendige Importe auf dem internationalen Markt einzusetzen. Staatliche Einnahmen gingen nicht nur wegen des ausbleibenden Tourismus verloren, sondern auch wegen des erzwungenen Abzugs der kubanischen Ärztebrigaden beispielsweise aus Brasilien oder in Ecuador nach dem dortigen Rechtsruck. Allein in Brasilien hatten fast 10 000 Ärzte vor allem in den ländlichen Regionen Menschenleben gerettet. Dies ist dank der Achse Bolsonaro-Trump vorbei.

Sie sind Mitinitiator der Havanna-Initiative, die sich für ein Ende der US-Blockade ausspricht. Wie kam es dazu?

Die Initiative kam im Frühjahr 2020 zustande, als die Coronapandemie in Kuba losging. Wir sechs Initiatoren arbeiteten alle seit Jahren in Kuba und treten dort für Austausch, Kooperation und Dialog ein. Wir konnten es einfach nicht mehr hinnehmen, dass inmitten der Pandemie, inmitten der sich verschlechternden Lebensverhältnisse auf der Insel die US-Regierung ihre Strafmaßnahmen gegen die Insel verschärfte, während Kuba Ärzte in die Welt schickte, sogar nach Europa. Das schöne an unserer Initiative ist, dass sie sich nicht auf linke Kreise beschränkt, die oftmals ohnehin ein Herz für Kuba haben, sondern weit darüber hinaus geht.

Wer hat da unterzeichnet?

Wir haben es geschafft ein breites Spektrum von der Ex-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin über den Filmemacher Wim Wenders, der unter anderem die Doku über den Buena-Vista-Social-Club gedreht hat, bis hin zu den Musikern Jan Delay und Udo Lindenberg für unsere Sache zu gewinnen. Dadurch haben wir für das Kuba-Thema eine mediale Aufmerksamkeit in Deutschland erreicht, die sonst in dieser Vielfalt selten ist.

Wie ist die Resonanz bisher?

Die Resonanz war sowohl im Auswärtigen Amt als auch bei der Vertretung der deutschen EU-Delegation positiv. Staatssekretär Nils Annen betonte, dass Deutschland ganz klar gegen die unilateralen Sanktionen der USA ist und deshalb bei der Uno für die Aufhebung der Blockade gestimmt habe. Annen sagte uns auch, dass die EU-Verordnung von 1996, die europäischen Firmen rechtlichen Schutz und Entschädigung vor den US-Sanktionen in Aussicht stellt, leider ein zahnloser Tiger sei. Die meisten Firmen unterlassen in Kuba vorsichtshalber Investitionen, um ihre Geschäfte auf dem US-Markt nicht zu verlieren. Solange das so ist, zieht Kuba immer den Kürzeren.

Die Reaktion der US-Botschaft dürfte nicht so wohlwollend ausgefallen sein, oder?

Sie war höchst interessant und widersprüchlich; ähnlich wie bei den Abstimmungen gegen die Kuba-Sanktionen in der Uno, wo die USA praktisch alleine gegen den Rest der Welt stehen. Sie verkennen die Realität. Die Botschaft sagte uns, ihre Maßnahmen dienten dem Wohl der kubanischen Bevölkerung. Sie würden ständig überprüft, inwieweit sie die Lage der kubanischen Bevölkerung verbessern würden. Vielleicht wird ihnen eine Aufstockung des Botschaftspersonals in Havanna, wie zuletzt von Präsident Biden angekündigt, dabei helfen, wieder etwas mehr Realitätsnähe zu gewinnen.

Die Blockadeverschärfung durch US-Präsident Donald Trump 2020 überraschte weniger als die Beibehaltung der Zwangsmaßnahmen durch den Demokraten Joe Biden. Hat er auf den offenen Brief von 400 internationalen Persönlichkeiten geantwortet, in dem er gebeten wird, wenigstens die 243 Zwangsmaßnahmen seines Amtsvorgängers zurückzunehmen?

Leider nicht. Meines Wissens gibt es von Biden keine offizielle Reaktion auf den Brief. Sehr schnell hat er dagegen auf die Proteste vom 11. Juli reagiert. Er hat sich sofort mit den Protestierenden in Kuba solidarisch erklärt und zuletzt sogar mit Regierungskritikern im Weißen Haus getroffen. Dies sieht man bei Protesten in Kolumbien, Brasilien oder Haiti eher selten. Neben den 20 Millionen US-Dollar, die jährlich in Organisationen für den politischen Wandel in Kuba investiert werden, gibt es nun Anträge, diese Summen weiter zu erhöhen, während gleichzeitig ein normaler Handel, beispielsweise der Export von dringend benötigten Spritzen zur Corona-Impfung, illegal bleibt.

Der Demokrat Biden hat viele Erwartungen in Kuba enttäuscht. Obama war aus Sicht vieler Kubaner und Kubanerinnen ein Hoffnungsträger, weil sie erlebt haben, dass sich durch den Austausch mit ihrem Nachbarland vieles verbessern kann. Sie sind enttäuscht, dass Biden sein Wahlversprechen, zu einem Kurs der Annäherung zurückzukehren, bisher nicht im Ansatz einhält. Die Bilder der Gewalt aus den sozialen Medien erschweren einen Annäherungskurs nun noch mehr. Jüngst hat er ja weitere Sanktionen gegen Vertreter der kubanischen Regierung erlassen.

Sie waren in Harvard Koordinator des dortigen Kuba-Programms und leben nun seit sechs Jahren fest in Havanna und arbeiten dort für das einzige US-amerikanisch geführte Studienzentrum in Kuba. Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Austausch zwischen kubanischen und US-amerikanischen Wissenschaftlern gemacht?

Selbst der wissenschaftliche Austausch zwischen Kuba und den USA ist ein schwieriges Feld. Es ist aber ein sehr spannendes und schönes Projekt. Die Wissenschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern gehen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Beide Länder teilen nicht nur Geschichte, Wirtschaftsraum und Kultur, sondern auch Krankheiten, Probleme, Naturkatastrophen und Hoffnungen.

Kubas internationale Ärztebrigaden sind nicht zufällig nach dem US-Amerikaner Henry Reeve benannt, der sich als junger Freiwilliger dem kubanischen Anti-Kolonialkampf solidarisch anschloss. Der kubanische Arzt Carlos J. Finlay entdeckte das Moskito als Träger der tödlichen Dengue-Krankheit, an der auch viele Menschen im Süden der US starben. Während der militärischen Besatzung Kubas 1900 segelte die Hälfte aller kubanischen Lehrer von Havanna nach Boston, um an einem Sommerkurs der Harvard-Universität teilzunehmen. Kubanische Wissenschaftler haben mit CimaVax einen höchst wirksamen Impfstoff gegen Lungenkrebs entwickelt, der US-Amerikanern absurderweise wegen ihrer Sanktionen nicht zugänglich ist. Selbst nach der Revolution 1959 gab es immer wieder punktuelle Zusammenarbeit zwischen den USA und Kuba, sei es bei der Agrarberatung, im Studentenaustausch oder bei wichtigen Treffen schwarzer Intellektueller. Wir haben in zehn Jahren über 100 kubanische Wissenschaftler aus den verschiedensten Disziplinen nach Harvard eingeladen, um dort mit ihren Kolleginnen gemeinsame Forschungsprojekte voranzubringen, sei es zu Impfstoffen, zum Umgang mit Ungleichheit und Rassismus, Klimawandel und vielem mehr.

Andererseits habe ich in Havanna Hunderten von jungen US-Amerikanern ermöglicht, aus erster Hand die komplexe Realität eines sich wandelnden Kubas zu erleben, zu studieren und zu hinterfragen sowie gemeinsam mit kubanischen Studierenden den Sinn von Sanktionen und Sozialismus zu diskutieren. Ich glaube, dieser Dialog, die direkte Erfahrung, ist das Beste was wir tun können, um Vorurteile und Misstrauen abzubauen und eine Grundlage für Beziehungen des Respekts und Kooperation zu schaffen.

Der wissenschaftliche Dialog zwischen Kuba und den USA floriert offenbar. In Kuba hat sich der 74-jährige Silvio Rodríguez – ein bekennender Anhänger der Revolution – nun mit dem regierungskritischen Theaterdramaturg Yunior García getroffen. Ein Zeichen der Entspannung?

Dieser Austausch ist auf jeden Fall ein sehr gutes Zeichen. Silvio Rodríguez war immer für Dialog. Er ist natürlich nicht die Regierung. Aber er ist ein einflussreicher Künstler, der über direkte Kanäle in die Regierung verfügt. Und auch das Kulturministerium führte ja im Anschluss an die Proteste direkte Dialoge mit ihren Repräsentanten. Grund zu Kritik und Protest gibt es überall. Ebenso ist das Recht auf friedlichen Protest in der kubanischen Verfassung verankert.

Jede Generation hat das Recht auf Rebellion, das gehört dazu. Die Jugend sucht ihren eigenen Weg und Stil, so war es bei mir auch. Das muss auch in Kuba anerkannt werden. Man kann nicht endlos vom Mythos der Geschichte zehren. Raúl Castro rief dazu auf, sinnentleerte Worthülsen, Rituale und Symbole mit neuem Leben zu füllen, sein Bruder Fidel etablierte das Motto: Alles verändern, was verändert werden muss. Das Projekt eines modernen nachhaltigen Sozialismus in Kuba muss mit einer positiven, konkreten, pluralen und inklusiven Vision gefüllt werden. Auch mit der Diaspora, aber ohne die Einmischung anderer Mächte. Dann hat die Revolution eine Chance.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.