- Kultur
- Industriearbeit
In der Sackgasse arbeiten
Die Fabrik ist alt und gefährlich: In »Lehrjahre« reist der Comic-Künstler Guy Delisle in seine Jugend zurück
Nordkorea, Myanmar, VR China – der Kanadier Guy Delisle sorgte in den vergangenen 20 Jahren immer wieder mit herausragenden Reisecomics für Aufsehen. Dabei positioniert sich der mittlerweile 55-Jährige angenehm unmodern in der Tradition des westlichen Globetrotterchauvinismus à la Evelyn Waugh. Betont subjektiv, immer sarkastisch und scharf beobachtend begegnet Delisle stets dem ihm Fremden, jedoch – und das unterscheidet ihn entschieden vom Kolonialmachismus – hinterfragt er unentwegt selbstkritisch seine eigene Präsenz und Funktion. Als Spezialist für Trickfilmanimation kam er als privilegierter Lohnarbeiter in die Entwicklungsecken der Welt, konfrontiert mit unüberwindbaren kulturellen Barrieren, Einsamkeit und Sinnlosigkeit in der Fremde.
Delisle, dessen Ich-Figur in den Comics gerne zur Völkerverständigung »Die Internationale« trällert, sieht seine Sozialismusnostalgie im südostasiatischen Stalinismus der Marke Kim zerbröseln. Auch in Shenzhen stößt er an die Grenzen der Sympathie fürs Regime, immer wieder ertappt er sich selbst als ausgemachten »Westler« und muss sich fragen, ob er nicht doch simpel ein Kapitalist ist. Solche Fragen, vor allem die, was Arbeit und was Wohlstand ist, lassen sich als rekurrierende Motive innerhalb seines Œuvres ausmachen. Auch sein neues Buch »Lehrjahre« handelt wieder von dem Aufeinandertreffen von Autor und Industriegesellschaft. Diesmal reist der Protagonist aus dem exotischen Land »Kindheit« an, um als Jugendlicher wie ein Erwachsener schuften zu dürfen.
Im Alter von 16 Jahren arbeitet der junge Guy zum ersten Mal in den Sommerferien in der Papierfabrik von Québec, wo auch sein Vater als Technischer Zeichner angestellt ist. Weil die Eltern geschieden sind, trifft Guy ihn in der Fabrik noch seltener als zu Hause. Phantomhaft glaubt er immer wieder die Umrisse des Erzeugers im Dschungel der Rohre, Abfälle und Maschinen zu erkennen. Delisles minimalistischer, aber ungemein genauer Zeichenstil hilft, dieses Versteckspiel nachvollziehbar zu gestalten. Überhaupt ist das Gespür für Bewegung, Dynamik, Stillstand und – am schwierigsten – eingefrorenen Slapstick, in diesem Buch herausragend.
Die Fabrik ist alt und gefährlich; wie den Bauch eines Wals betritt Guy das Gelände jeden Tag, um sich zu erschöpfen. Riesige Papierhaufen müssen in Abfallschächte gekehrt, riesige Walzen mit dem Kran umgeladen werden, riesige Schnitte sind mit winzigen Werkzeugen akribisch auszuführen. Lärm und Hitze generieren verschiedene Geheimsprachen unter den Werktätigen, auf einer Seite in »Lehrjahre« gibt es ein Papierfabrik-Alphabet, durch das der Leser lernt, wie Stuhlgang, Ehefrau-am-Telefon oder Mittagspause gebärdet werden. Manchmal sprechen die Arbeiter auch hörbar miteinander, nämlich dann, wenn sie in einem schalldichten Ruheraum sitzen, in dem Tag und Nacht der Fernseher läuft. Der junge Mann mit akademischer Perspektive erfährt hier von wenigen kleinen Träumen und noch viel mehr Resignation der Vollzeitbeschäftigten in der Sackgasse.
Manche klammern sich an ihre Gewerkschaft, manche an ihre Familie, manche klammern sich an ihr Motorrad, manche an ihre Homosexualität und manche klammern sich an den Fernseher. Gefangen im Klammergriff der Leistungsgesellschaft, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als täglich dem Rauch aus den Schornsteinen zu folgen, wenn sie ein Dach über dem Kopf wollen. Auch Guys Vater ist gefangen, sein »halbes Leben« verbringt er hinter diesen Mauern, ihm ist das Buch gewidmet. Der kapitalistische Druck hilft – irgendwann weiß der Junge, wieso er sich mit seinem Bildungsweg beschäftigt, das heißt: mit seiner Karriere. Guy Delisle ist kein Kapitalist.
»Lehrjahre« ist ein genauso bedrückendes wie heiteres Buch – auch diese Balance zieht sich durch das Werk des Zeichners und Autors. Delisle ist seriöse Literatur, die auch Romanleser nicht scheuen müssen. Guy Delisle versteht, was Bilder können, wo es Text braucht und wo nicht. Im besten Sinne sind seine Bücher Einführungswerke für Menschen, die der Gattung Comic noch immer fernstehen, gleichzeitig zählen sie dort zur fortgeschrittensten Kunst. Diese 144 schwarz-weiß-gelben Seiten seien hiermit uneingeschränkt empfohlen. Maximilian Schäffer
Guy Delisle: Lehrjahre. A. d. franz. Kanad. v. Heike Drescher. Reprodukt. 136 S., br., 20 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.