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Magische Momente des Merkelismus
Auf Nimmerwiedersehen: Die Bundeskanzlerin hat eine verheerende Bilanz und ein gutes Image
Angela Merkel umgibt der unerschütterliche Nimbus der Krisenkanzlerin, doch genauer besehen ist ihre Bilanz verheerend. Merkel wird nicht als große Bewältigerin von Krisen in die Geschichte eingehen, sondern als die große Blockiererin in Europa.
Ein erster Sprung in der Fassade zeigte sich im Herbst 2014, als der US-Journalist George Packer in der Zeitschrift »New Yorker« ein bis heute international maßgebliches Porträt der deutschen Kanzlerin veröffentlichte. Packer hatte dafür den Sommer über mit gefühlt jeder relevanten Figur des deutschen Politbetriebs gesprochen – Journalisten, Ex-Minister, Oppositionspolitiker, langjährige Weggefährten von Merkel, aber bezeichnenderweise nicht mit ihr selbst, da sie abgelehnt hatte. Er konnte sein Erstaunen nur schwer verbergen, wie es einer nach amerikanischen Maßstäben vollständig uncharismatischen Person wie Merkel gelungen war, über sämtliche Parteigrenzen und eventuell vormals bestehende ideologische Gräben hinweg nahezu grenzenlose Zustimmung zu erzielen.
Eine Opposition war weitgehend inexistent, die Popularitätswerte der Kanzlerin so abwegig hoch wie (fast) immer, sie selbst auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Nur vereinzelt konnte Packer Stimmen vernehmen, die in dieser fundamentalen Entpolitisierung der Politik eine gewisse Gefahr auszumachen vermochten – aber meist trotzdem keinen Grund sahen, Merkel nicht zu wählen.
Im Herbst 2014 bekam allerdings auch die außerparlamentarische Merkelopposition von Rechtsaußen ihre erste Fratze in Form der islamfeindlichen Pegida-Bewegung. Nicht zuletzt mit Hilfe von deren Mobilisierungskräften gelang infolge des Stimmungsumschwungs nach dem kurzen »Willkommenssommer« der Fluchtkrise 2015 der AfD 2017 der Einzug in den Bundestag. Die Ablehnung von Merkel strahlte nun vom rechten Hass bis weit in die gesellschaftliche Mitte aus. Ihre Zustimmungswerte sanken auf für sie historische Tiefstwerte – ebenso die Wahlergebnisse der Unionsparteien –, und allmählich begann auch ihr Nimbus der alternativlosen Krisenkanzlerin zu bröckeln: Vielleicht war es ja doch noch möglich – oder gar nötig –, tatsächlich auch Politik zu machen, neue Möglichkeiten anzubieten, anstatt nur zu verwalten. Es folgten Merkels Abgabe des CDU-Parteivorsitzes, der angekündigte Verzicht auf eine erneute Kanzlerkandidatur – aber auch der Erfolg der Klimabewegung um Fridays for Future und der Aufstieg der Grünen, die die Union im Sommer 2019 erstmals in Umfragen überholten.
Doch dann kam Corona. Und damit der erwartbare anfängliche Vertrauensschub für eine scheinbar beherzt zupackende Regierung, das waren neue Dimensionen der Merkelloyalität. Seit aber auch diese Krisenpolitik restlos entzaubert ist und die Pandemie im Grunde sämtliche Aspekte des systematischen Versagens der merkelgeführten Unionspolitik der vergangenen 16 Jahre hat zutage treten lassen, kann man sich nur noch verwundert die Augen reiben, wie die ewige Kanzlerin weiterhin auf dem Thron ihrer Beliebtheit residiert. Weit darunter rangiert der Nachfolger ihres Versagens, der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Armin Laschet, der sich zwar fortwährend selbst in die Beine schießt – aber aus irgendeinem Grund anscheinend nicht lahmzulegen ist. Anstatt sich nur die Augen zu reiben, sollte man sich die verheerende Bilanz von eineinhalb Jahrzehnten Merkelismus noch einmal ganz genau ansehen – um hoffentlich irgendwann doch noch Konsequenzen daraus ziehen zu können.
Beginnen wir gleich mit Merkels vermeintlich »magischstem« Moment: dem »Wir schaffen das« des Fluchtsommermärchens 2015. Hier kam paradigmatisch ihre Strategie zum Ausdruck, den politischen Gegner lahmzulegen, indem sie ihm die Trümpfe klaut – auch wenn sie in diesem Fall ausnahmsweise auch aus Überzeugung gehandelt haben mag (oder doch nur aus Berechnung, wie zuletzt Stephan Hebel im »Freitag« argumentiert hat?).
Schien es zunächst noch so, als wäre ein ganzes Land schlagartig der humanitären Gesinnung seiner Herrscherin verfallen (was im Übrigen nie der Fall war, die Deutschen waren in dieser Frage immer gespalten), nahm die sommerliche »Willkommenskultur« in der Folge in jeder Hinsicht die denkbar schlechteste Wendung. Nicht nur war es sehr schnell wieder aus mit der liberalen Migrationspolitik: Seit Anfang 2016 ging im Zusammenhang mit dem EU-Türkei-Abkommen und der Schließung der Balkanroute die Aufnahme von Geflüchteten stark zurück. Dennoch entbrannte zugleich ein sinnloser Streit zwischen Merkel und Seehofer um eine »Obergrenze«, der suggerierte, es gäbe hier tatsächlich noch offene Fragen. Als Ergebnis gab es eine restriktive Einwanderungspolitik plus eine gestärkte AfD.
Und im Resümee muss man leider sagen, dass Deutschland dadurch eine moderne Migrationspolitik vollständig verschlafen hat. Nämlich eine, die nicht nur den geopolitischen Realitäten im »Zeitalter der Migration« gerecht wird, wie der indisch-amerikanische Politikwissenschaftler Parag Khanna es nennt, sondern auch den demografischen Anforderungen einer weiterhin zielsicher überalternden Gesellschaft wie der deutschen. Kurz gesagt: Deutschland braucht dringend mehr Einwanderung, wenn es seinen Wohlstand erhalten will. (Und es sollte die Gelegenheit nutzen, solange überhaupt noch Menschen zu uns kommen wollen – denn das könnte sich schneller ändern, als wir denken.)
Eine ähnlich dezeptive – und letztlich völlig irre – Wendehalsigkeit hatte Merkel bereits 2011 beim Ausstieg vom Ausstieg vom Atomausstieg an den Tag gelegt. Nachdem sie gerade erst mit großem Pomp die einst von Rot-Grün beschlossene Laufzeitbeschränkung der deutschen Atomkraftwerke rückgängig gemacht hatte, diktierte ihr Physikerinnen-Sachverstand nach der zuvor anscheinend so unerwartbaren Katastrophe von Fukushima plötzlich das Gegenteil. Zugleich wurde allerdings der Ausbau der erneuerbaren Energien massiv verschleppt, ihr Anteil am Primärenergieverbrauch lag 2019 bei unter 15 Prozent. Das Drama um die Windkraft ist weitgehend bekannt, die einstmals boomende deutsche Solarindustrie wurde nach einem Deal des damaligen SPD-Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel mit China (kurz: China Solar, Deutschland Autos) weitgehend zerlegt. Und natürlich versteht es sich unter CDU-Führung von selbst, dass die Kosten der Energiewende überwiegend nicht etwa die Konzerne tragen, die damit ihr Geld verdienen, sondern: die Verbraucher.
Systemische Antisozialität könnte auch das Stichwort für die Bewältigung der Krise lauten, die Merkel ursprünglich den Ruf der »Krisenkanzlerin« einbrachte: die Finanz- und Eurokrise ab 2007/2009. Natürlich war es eine ganz große Leistung, die hart erarbeiteten Einlagen der fleißigen deutschen Kleinsparerin gegen die ach so faulen Griechen, Spanier und Italiener zu verteidigen. Doch mit dieser angeblichen »Rettung« besonders Griechenlands vor den einst von Deutschland durchgesetzten systemischen Asymmetrien des Euroraums gelang es in erster Linie, diese Asymmetrien noch einmal zu zementieren. Die Folgen der damit verbundenen »Austeritätspolitik«, sprich das Kaputtsparen des südlichen Europas, haben sich in aller Härte auch noch einmal in der Corona-Pandemie gezeigt, von der nicht zufällig ehemalige Eurokrisenländer wie Italien oder Spanien besonders schlimm getroffen wurden, die zuvor zehn Jahre lang ihre Gesundheitsversorgung hatten verschrotten dürfen.
Doch auch in Deutschland selbst ist die soziale Ungleichheit im Zuge der Pandemie noch einmal stärker gewachsen, als sie es ohnehin seit Jahrzehnten tut. Wurde das Virus zwar zunächst von wohlhabenden Jetsettern in Deutschland verbreitet, war Covid-19 am Ende doch ganz vornehmlich eine Unterschichtenkrankheit, von der in erster Linie diejenigen betroffen waren (und sind), die ihr in beengten Wohnverhältnissen und prekären Präsenzjobs nicht einfach so ausweichen konnten, und denen jetzt – nicht ganz unverständlich – oftmals auch das nötige Systemvertrauen fehlt, um an einer staatsaktmäßig aufgezogenen (und dabei doch denkbar ungünstig angelaufenen) Impfkampagne teilzunehmen.
Und noch eine weitere bitter-ironische Merkelvolte hat die Pandemie zutage befördert. War es einst just eine Parteispendenaffäre gewesen, die Merkel mutig nutzte, um ihren Ziehvater Helmut Kohl und dessen Thronfolger Wolfgang Schäuble vom Sockel der Parteimacht zu stoßen, überrascht es am Ende dennoch kaum, dass auch im Schatten von Merkels Macht um der Macht willen weiterhin ein Korruptionssumpf in der Union gedeihen konnte. Diverse Corona-Maskenaffären waren eine besonders widerliche Ausprägung – über diese Korruptionsformen wächst anscheinend heutzutage wesentlich schneller wieder Gras, als es um 2000 der Fall war.
So hat durch die brutale Offenlegung beinahe sämtlicher systemischer Schwachstellen des Landes – allen voran in Bildung, Verwaltung, sozialer Gerechtigkeit – die Pandemie uns in aller Deutlichkeit demonstriert, dass wir keineswegs das moderne Land sind, für das wir uns so gerne halten. Doch anstatt diese desaströsen Defizite im aktuellen Wahlkampf offensiv zu thematisieren, rollt die Nation – Opposition und Medien inklusive – gerade im verrosteten Schlafwagen mit aller Kraft in Richtung Rentnerrepublik. Und vom allergrößten Drama, dem ausbleibenden (Wahl-)Kampf gegen den Klimawandel ist dabei noch gar nicht die Rede gewesen...
Womöglich ist das die fatalste Folge von Merkels jahrelanger Strategie der »asymmetrischen Demobilisierung«: Dass es nun selbst bei ihrem Abgang – trotz größter Notwendigkeit und bester Gelegenheit – keine echte Opposition mehr im Land gibt, und leider erst recht keine, die irgendwie willens oder imstande wäre, sich zusammenzutun, um diesem Trauerspiel ein Ende zu bereiten und die Union zu stürzen. Stattdessen buhlen im Grunde sämtliche als regierungsfähig geltenden Parteien lediglich um die Rolle als suizidaler Steigbügelhalter der Macht für die wohl einzig wahre deutsche Regierungspartei auf dem Weg in die Katastrophe. Was für ein Vermächtnis.
Der Journalist Tilo Jung hat kürzlich in der Youtube-Sendung »Jung & Live« gemutmaßt, dass die weltweiten Lobeshymnen auf Angela Merkel sich wohl spätestens in einigen Jahren in ihr Gegenteil verkehren werden, und sie selbst schließlich nicht als die große Krisenbewältigerin in die Geschichte eingehen wird, sondern als die Politikerin, die Anfang des 21. Jahrhunderts angesichts gigantischer Krisen 16 Jahre lang die bitter nötige Transformation des mächtigsten Landes Europas blockiert hat. Dem ist wenig hinzuzufügen. Und doch haben die Deutschen immer noch die Möglichkeit, Angela Merkel – anstatt einem »Weiter so« auch ohne sie – wenigstens zur Wegbereiterin der ersten grünen Bundeskanzlerin zu machen. Die Chancen stehen schlecht, doch die Hoffnung stirbt zuletzt.
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