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»Evident realitätsfern«

Bundesverfassungsgericht kippt überhöhte Finanzamtszinsen und verlangt Korrektur vom Gesetzgeber

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Zu hohe Steuerzinsen sind laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Das gelte für Steuernachzahlungen wie für Steuererstattungen gleichermaßen. Der von Finanzämtern bislang erhobene Zinssatz von 0,5 Prozent pro Monat oder sechs Prozent jährlich sei realitätsfern und verfassungswidrig. Diese Entscheidung veröffentlichte das Gericht am Mittwoch in Karlsruhe (Az.: 1 BvR 2237/14 u. a.). Der Zinssatz sei nicht mehr zu rechtfertigen, wenn er sich als »evident realitätsfern« erweise - was wegen des aktuell bestehenden »strukturellen Niedrigzinsniveaus« seit 2014 der Fall sei, schreiben die Richter in ihrer Begründung. Grundsätzlich sei der Gesetzgeber aber dazu berechtigt, Zinsen auf Steuernachzahlungen zu erheben.

Beobachter hatten mit einem solchen Urteil zu den sogenannten Finanzamtszinsen gerechnet. »Die politischen Kritiker der aktuellen Zinssatzhöhe haben sich wiederholt die Finger wund geschrieben«, kritisierte der Würzburger Juraprofessor Ralf Jahn kürzlich im Steuerfachmagazin »NWB«. Bereits 2018 hatte der Bundesfinanzhof die Zinssatzhöhe beanstandet. Der Finanzhof mit Sitz in München ist das oberste Gericht für Steuersachen. Eine Bundesratsinitiative des Landes Hessen, den Zinssatz zunächst zu halbieren und später einen »Zinssatz auf Rädern« einzuführen, der sich an den allgemeinen Marktzinsen orientiert, verpuffte allerdings im politischen Berlin. »Wahrscheinlich auch, weil der Staat daran gut verdient«, wie der Bund der Steuerzahler vermutet.

Die Zinsen, die der Staat von Steuerpflichtigen für Nachzahlungen erhält, übersteigen üblicherweise die Zinsausgaben der Finanzämter ihrerseits für Erstattungen an Bürger und Firmen. Im Zeitraum 2009 bis 2018 betrug der Saldo immerhin knapp zehn Milliarden Euro. 2019 zahlten Bund, Länder und Gemeinden allerdings mit 550 Millionen Euro drauf, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP hervorgeht. Für das vergangene Jahr liegen keine genauen Zahlen vor. Wegen der unklaren Rechtslage hatten die Finanzämter die Zinsen seit Mai 2019 in sämtlichen Bescheiden nur noch vorläufig festgesetzt.

Von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts werden sehr viele betroffen sein. Neben Privatpersonen sind es in erster Linie Unternehmen, die anlässlich von Betriebsprüfungen Steuern für vergangene Jahre nachzahlen und hierauf Zinsen entrichten müssen. Geklagt hatten zwei Firmen, bei denen es um Zinszahlungen im sechsstelligen Bereich geht. Aber auch einzelne Kommunen können besonders betroffen sein, etwa wenn sich durch Betriebsprüfungen hohe Steuererstattungen oder Verschiebungen bei der Gewerbesteuer ergeben.

Zinsen gibt es grundsätzlich bei der Einkommen-, Körperschaft-, Vermögen-, Umsatz- und Gewerbesteuer. Sie werden fällig, wenn sich eine Steuernachzahlung oder -erstattung um mehr als 15 Monate verzögert. Im ersten Fall profitiert der Fiskus, im zweiten der Steuerzahler. Die Höhe liegt seit 1961 unverändert bei sechs Prozent. Diese Regelung gilt unabhängig davon, ob Steuerzahler oder Finanzamt an der Verzögerung schuld sind oder nicht.

Der Zinssatz von sechs Prozent ist ab 2019 nicht mehr anwendbar, urteilte das Verfassungsgericht und ordnete eine rückwirkende Korrektur an. Für die Zeit 2014 bis 2018 ließen die Richter die beanstandete Vorschrift hingegen in Kraft, was beim Bundesverband mittelständische Wirtschaft auf Kritik stieß. In den Jahren bis 2013 waren die allgemeinen Zinsen zwar auch schon gesunken. Damals sei der Zinssatz aber »noch in einem rechten Verhältnis« gewesen, hieß es aus Karlsruhe.

In der Niedrigzinsphase seit der Krise 2007/2008 waren die Finanzamtszinsen jedoch zunehmend in eine Schieflage geraten. Eigentlich sollten sie auf beiden Seiten potenzielle Gewinne ausgleichen. Angesichts von Minizinsen bei Banken ist dies derzeit allerdings kaum möglich.

Da die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch die Erstattungen umfasst, werden einige Steuerzahler nach dem Karlsruher Urteil die Verzinsung teilweise zurückzahlen müssen. Wie hoch der Zinssatz eigentlich sein darf, hat der Erste Senat übrigens nicht festgelegt. Es ist jetzt Sache des Gesetzgebers, bis zum Ende 2022 eine Neuregelung zu treffen.

Daran will man sich auch halten. Das Bundesfinanzministerium kündigte an, zusammen mit den obersten Finanzbehörden der Länder »zügig« die Vorbereitungen zu treffen, »um die Entscheidung des Verfassungsgerichts umzusetzen«, wie Staatssekretär Rolf Bösinger erklärte.

Ein Absenken um mindestens die Hälfte forderte der Bund der Steuerzahler. Der finanzpolitische Sprecher der Linksfraktion, Fabio De Masi, schlug vor, den Steuerzins »mit einem moderaten Aufschlag« an den Leitzins der Europäischen Zentralbank zu koppeln. Die Grünen-Finanzpolitikerin Lisa Paus übte lieber Kritik: Die Bundesregierung und vor allem Finanzminister Olaf Scholz (SPD) hätten es »verschlafen, hier frühzeitig aktiv zu werden«.

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