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Jenseits der Esoterik
Nastassja Martins Erzählung »An das Wilde glauben« ist eine ethnologische Spurensuche auf der Insel Kamtschatka
Manche Bücher machen satt, andere hungrig. Nastassja Martins Erzählung »An das Wilde glauben« zählt eindeutig zu der zweiten Kategorie. Es gehört zu den ganz wenigen Büchern, bei denen der Rezensent unmittelbar den Impuls verspürte, es gleich noch mal zu lesen. Die ursprüngliche Befürchtung, dass sich hinter der abenteuerlichen Geschichte am Ende der Versuch einer Bekehrung zu esoterischen Thesen verbergen könnte, entpuppte sich nämlich als gegenstandslos.
Die Fabel ist in den Grundzügen rasch erzählt. Eine französische Ethnologin wagt sich in die Wildnis der russischen Halbinsel Kamtschatka und trifft dort urplötzlich auf einen Bären: »Er zeigt mir die Zähne, wahrscheinlich hat er Angst, ich habe auch Angst, aber da ich nicht fliehen kann, mache ich es ihm nach, ich zeige ihm auch die Zähne. Dann geht alles sehr schnell. Wir stoßen zusammen er wirft mich um, meine Hände greifen in sein Fell, er beißt mir ins Gesicht dann in den Kopf, ich spüre, wie meine Knochen krachen, ich sage mir, ich sterbe, aber ich sterbe nicht, ich bin bei vollem Bewusstsein. Er lässt los und schnappt nach meinem Bein. Ich nutze die Gelegenheit und nehme meinen Pickel aus der Rucksackschlaufe, in der er seit dem Abstieg vom Gletscher hängt, ich schlage damit zu, ich weiß nicht wohin, weil meine Augen geschlossen sind, ich bin nur noch Gefühl. Er lässt los.«
Die Schwerverletzte, die bei dem Zusammenstoß einen Teil ihres Kiefers verliert, wird in einer nach außen vollkommen abgeschirmten geheimen Basis des russischen Militärs notdürftig zusammengeflickt. Starke Schmerzmittel versetzen sie in einen von Fieberträumen durchsetzten Dämmerzustand.
Dem Angehörigen des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, der sie anschließend verhört, kann sie nur unter größter Mühe klar machen, dass ihr Aufenthalt in der Wildnis keinem staatsfeindlichen Zweck diente. »Der Agent brauchte drei Stunden, um mit mir übereinzukommen, dass ich keine Spionin bin, und, auch wenn es schwer zu glauben ist, aus Gründen, die weder mit Krieg noch Spionage zu tun haben, lebend aus dieser Geschichte herausgekommen bin.« Zurück in Frankreich erklären ihr die Mediziner, die russischen Kollegen hätten bei dem Versuch, ihr Gesicht zu rekonstruieren, nicht genug Sorgfalt walten lassen. Eine schier endlos scheinende Serie aufwendiger operativer Eingriffe folgt. Ihr zerfleischter Körper wird auseinandergenommen und in komplizierten chirurgischen Eingriffen wieder zusammengesetzt.
Schließlich flüchtet die Erzählerin vor dem ganz eigenen Wahnsinn des arbeitsteiligen und hoch professionalisierten Gesundheitssystems erneut zu Freunden von der indigenen Gemeinschaft der Ewenen in die russische Wildnis. Dort glaubt man, die Ethnologin habe sich durch ihre Begegnung mit dem Bären in eine »miedka« verwandelt, ein Mischwesen aus Mensch und Tier. Tatsächlich erscheint ihr das Tier immer wieder in ihren Albträumen. Doch sie selbst deutet die Erfahrung, die sie mit dem Bären und der Bär mit ihr macht, nicht als das einer Verschmelzung. Die Gemeinsamkeit der beiden Lebewesen besteht darin, dass sie sich in der schockartigen Begegnung gegenseitig als Raubtiere erfahren, die einander vollkommen fremd sind.
Nastassja Martins Buch ist das jüngste Beispiel einer nicht abreißenden Folge erfolgreicher autofiktionaler französischer Romane, die sich philosophischen Fragen nicht auf abstrakt theoretisierende, sondern auf anschaulich erzählerische Weise nähern. »Es gibt hier tatsächlich etwas anderes als das, woran wir in der westlichen Welt glauben«, resümiert die Schülerin des Ethnologen Philippe Descola die Resultate ihrer Feldforschungen bei indigenen Gesellschaften in Alaska und in Russland. Während unser Weltbild von einer strikten Trennung zwischen den Sphären der Natur und der Kultur geprägt ist, herrschen dort Konzepte vor, die sich auch Dinge als beseelt vorstellen oder die von einer fundamentalen geistigen Verwandtschaft von Tieren und Menschen ausgehen.
So denken die Angehörigen der indigenen Ewenen, dass »sie nicht die Einzigen sind, die im Wald leben, fühlen, denken, hören, und dass um sie herum andere Kräfte am Werk sind. Es gibt hier ein Wollen außerhalb der Menschen, eine Intention jenseits des Menschlichen«.
Eher beiläufig und ganz nüchtern teilt die Erzählerin uns die eine oder andere Beobachtung mit, die dazu geeignet ist, fest etablierte Vorstellungen über die Geschlechterrollen in Jägergesellschaften ins Wanken zu bringen. Die Annahme, nach der die Männer jagen und die Frauen kochen, sei nichts anderes als »eine hübsche Fiktion der Bewohner der westlichen Welt, die sich dann auf die Entwicklung ihrer Gesellschaft und die Überwindung der angenommenen Geschlechterrollen etwas einbilden können. Hier können alle alles. Jagen, fischen, kochen, waschen, Fallen stellen, Wasser holen, Beeren pflücken, Holz hacken, Feuer machen. Um tagtäglich im Wald zu leben, sind fließende Rollen unabdingbar; alle sind ständig in Bewegung, der tägliche Nomadismus setzt voraus, dass man jederzeit alles machen kann, denn das Überleben hängt ganz konkret von den geteilten Kompetenzen ab, sobald ein Familienmitglied abwesend ist.«
Nastassja Martin: An das Wilde glauben. Matthes & Seitz Berlin, 144 S., geb., 18 €.
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