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Auf den zweiten Blick
Wer hat Angst vor einer »Rosa Brigade«? Neue Outreach-Konzepte am Bode-Museum Berlin
Wir diskutieren in Deutschland ja gerade intensiv darüber, wie die EU damit umgehen sollte, dass Viktor Orbán in Ungarn ein Gesetz erlassen hat, das es untersagt, von der Norm abweichende Sexualität für Menschen unter 18 Jahren sichtbar zu machen. Mit »Norm« ist Heterosexualität gemeint, alles andere sei »Propaganda« einer aggressiven Minderheit. Im von der PiS regierten Polen gibt es ähnliche Bestrebungen und sogar offizielle »LGBT-freie Zonen«, wo es angeblich keinerlei Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transpersonen gibt. In der Geschichte des Landes existieren sie angeblich auch nicht, was der Aufschrei rund um Frederik Chopin deutlich machte, den das Schweizer Radio 2020 »outete« und was auch die Aufregung um die neue polnischsprachige Biografie zu Komponist Karol Szymanowski belegt. Titel: »Uwodziciel« (»Verführer«). Polnische Medien laufen Sturm, weil hier »zu viel« Privates ans Licht gezerrt würde, was fürs Verständnis der Musik »nicht nötig« sei. Wobei niemand mit der Wimper zuckt, wenn solche Privatissima heterosexueller Natur sind.
Viele Linke, die gegen die Ausgrenzung von Minderheiten kämpfen, gehen gegen diesen Umgang mit LGBT auf die Barrikaden. Was die Frage nahelegt, wie es eigentlich in Deutschland um LGBT-Sichtbarkeit steht, wenn beispielsweise minderjährige Besucher ins Museum gehen, um sich über unsere (Kultur)Geschichte zu informieren? Etwa in Berlin, wo ein rot-rot-grüner Senat das Engagement für queere Sichtbarkeit explizit in den Koalitionsvertrag geschrieben hat.
Nun hat Berlin zwar seit 1985 ein Schwules Museum, für das die Fördergelder in der aktuellen Legislaturperiode unter Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) beeindruckend in die Höhe geschossen sind. Aber ansonsten muss man nach LGBT-Themen in Mainstream-Museen der Hauptstadt mit der Lupe suchen – und wird sie nicht finden. Außer im Bode-Museum, wo die neue Outreach-Kuratorin Maria Lopez-Fanjul y Diez del Corral schon vor einer Weile die Ausstellung »Der zweite Blick: Spielarten der Liebe« präsentierte. Darin soll im Rahmen der Dauerausstellung bei ausgewählten Objekten auf eine queere – also vom heterosexuellen Mainstream abweichende – Geschichte hingewiesen werden. Damit steht das Bode-Museum allein da, kein anderes der Staatlichen Museen zu Berlin hat diesen Schritt gewagt. Diversity-Debatten hin oder her: Die Institutionen unter Obhut der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (mit CDU-Kulturstaatsministerin Monika Grütters an der Spitze) sind bis auf »Spielarten der Liebe« eine LGBT-freie Zone, und niemanden scheint das zu stören. Schon gar nicht Frau Grütters, die momentan die Berliner CDU auf Platz eins der Landesliste in den Bundestagswahlkampf führt.
Was Outreach bedeutet, erklärte mir Maria Lopez so: Es sei eine Strategie, »mit der wir die heutige Gesellschaft und vor allem die Menschen in Berlin besser in die musealen Diskurse einbinden wollen«. Es handle sich um eine kuratorische Praxis, die eine »emotionale Verbindung zwischen Kunstgeschichte und den Interessen des Publikums« schaffen solle, mit einer »multiperspektivischen Interpretation der Sammlungen«.
Um multiple Perspektiven auf die eigene Geschichte geht es in der jüngsten von Lopez initiierten Ausstellung »Klartext«, die wegen des Lockdowns lange verschoben werden musste und fast unbemerkt im Mai eröffnet hat. Nur die »Welt« registrierte die neue Schau und erregte sich, dass Wilhelm Bode »Antisemitismus« vorgeworfen werde, das prangte gleich als Überschrift über dem ersten Raum. Der Kunsthistoriker Bode (1845–1929) hatte das Museum 1904 begründet, unter dem Namen Kaiser-Friedrich-Museum. Nach ihm wurde es erst 1956 in der DDR umbenannt.
Für die »Welt« gab es in der Ausstellung »Klartext« keine Belege für den Vorwurf des Antisemitismus. Ein Informationsblatt relativiere sogar: »Soweit bekannt, hat er sich nie öffentlich antisemitisch geäußert.« Es sei nur von Briefen die Rede und von »entsprechenden Äußerungen im Manuskript seiner Memoiren«. Letztere wurden jedoch nie veröffentlicht. Ist es dann legitim, derart »Privates« öffentlich zu machen? Und warum ist es legitim, dies in unseren »woken« Zeiten beim Thema Antisemitismus zu tun, nicht aber bei Homosexualität?
Die Frage drängt sich auf, weil in »Klartext« in einer Art Ahnengalerie vergessene Mitarbeiter des Hauses vorgestellt werden, zu denen auch der Kunsthistoriker Ernst Friedrich Bange (1893–1945) zählt. Es wird erklärt, dass er 1922 einen Katalog über italienische Reliefs und Plaketten fertigstellte, der heute noch genutzt werde. 1944/45 wurde Bange Leiter der Skulpturensammlung. Um mich zu animieren, über »Klartext« im LGBT-Magazin »Mannschaft« zu schreiben, wies mich Maria Lopez darauf hin, dass Bange schwul gewesen sei und sich 1945 vorm Museum getötet habe.
Das klang spannend. Ich verabredete mich also mit Lopez, um mehr zu erfahren. Sie verwies mich wegen Bange an ihren Co-Kurator Paul Hofmann. Er hat zum Tod Banges recherchiert und einen Brief von Günther Schiedlausky entdeckt, der unter Bange in der Skulpturensammlung arbeitete und 1994 im Alter von 87 Jahren an Professor Christian Theuerkauff schrieb: »Die noch im Museumskeller verbliebenen Kisten mit Objekten der Skulpturenabteilung wurden von russischen Soldaten bewacht. Trotz Verbotes kontrollierte [Bange] dieses Depot und wurde eines Tages geschnappt und zum Verhör zum besagten Gebäude des NKWD gebracht.« Dabei handelte es sich ums heutige Magnus-Haus, den Wohnsitz Angela Merkels; der sowjetische Geheimdienst führte dort Verhöre durch. Beim Verhör wurde Bange »erneut der Zutritt zum Keller des Museums untersagt«, schreibt Schiedlausky. »Man muss ihm gedroht und die Folgen eines erneuten Versuches klargemacht haben. Diese Drohung missachtend, gelang es [Bange] erneut in den Keller zu kommen, wo er verhaftet wurde. Im Bewusstsein dessen, was ihm bevorstand, nahm er dann Gift.«
Was stand ihm bevor: Exekution nach Kriegsrecht? Ging es »nur« um die Sammlung im Keller oder um Banges Verhalten im Nationalsozialismus? Spielte seine Homosexualität eine Rolle? Hofmann schweigt dazu. Er sagt lediglich, dass Bange Gift eingenommen und sich von der Nordspitze des Bode-Museums in die Spree gestürzt haben soll. Und er erwähnt, dass Banges Lebenspartner Ernst Günter Troche (1909–1971) im August 1945 zum Direktor des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg ernannt wurde. In den 1950er Jahren wanderte er dann nach San Francisco aus, das spätere Schwulenmekka.Von all dem erfährt man als »Klartext«-Besucher nichts, weil beschlossen wurde, »Privatangelegenheiten« wegzulassen. »Gerade im Hinblick auf die Bedeutung von persönlichen Netzwerken für die Museumsarbeit bestehen fraglos noch einige große Wissenslücken«, sagte Hofmann im Gespräch mit »Mannschaft«.
Aber wie sollen solche Wissenslücken geschlossen werden, wenn man sie nicht sichtbar macht? Und wird Maria Lopez auch so vorsichtig mit Privatem umgehen, wenn sie im Herbst 2021 den zweiten Teil der Ausstellung »Der zweite Blick« enthüllt? Dann soll es um »Frauen« gehen und darum, »zum ersten Mal die Geschichten der in unseren Sammlungen vertretenen Frauen dauerhaft im offiziellen Narrativ des Museums zu präsentieren«, sagte Lopez zu mir. Haben diese Frauen dann auch kein Privat- oder Beziehungsleben, über das man sprechen könnte, wenn es nicht heterosexuell ist? Und das, obwohl der Berliner Senat seit 2018 einen Preis für Lesbische* Sichtbarkeit vergibt und das Projekt »Lesbisch. Sichtbar. Berlin« fördert. Viel bewirkt hat das bislang leider nicht.
In Polen hat derweil die US-Firma Netflix eine große Werbekampagne an Bushaltestellen gestartet für die Serie »Queer Eye«, auf Polnisch »Różowa brygada« – die »Rosa Brigade«. Die Unterzeile auf den derzeit überall zu sehenden Plakaten besagt: »Es ist nicht möglich, eine voll[wertig]e Geschichte ohne LGBTQIA+ zu schreiben«. Was Netflix in Polen anmahnt, daran möchte man in Berlin die Ausstellungsmacher auf der Museumsinsel auch gern erinnern. Besonders wenn eine Schau wie »Klartext« eine »emotionale Verbindung« zu den »Interessen des Publikums« in der queeren Hauptstadt Deutschlands herstellen soll. Man könnte fast wünschen: Netflix, übernehmen Sie!
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