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Alle irgendwie ins Boot holen
Annalena Baerbock kündigt einen neuen Gesellschaftsvertrag und ein Comeback der Runden Tische an
Sie ist schwer zu fassen, die Spitzenfrau der Grünen. Das zeigte Annalena Baerbock am Freitag einmal mehr. Da hielt sie auf Einladung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) eine »Berliner Rede« und trat anschließend in den Dialog unter anderem mit Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, und DIW-Präsident Marcel Fratzscher. Von ihnen bekam die Kandidatin viel Lob, insbesondere dafür, dass sie ein Konzept für einen »neuen Gesellschaftsvertrag« vorgelegt habe. Doch abgesehen davon, dass das Wort »Gesellschaftsvertrag« in Baerbocks Referat oft vorkam, blieben dessen Konturen sehr vage.
Immerhin: Drei konkrete Projekte, die sie, sollte sie Regierungschefin werden, in kürzester Zeit in Angriff nehmen will, nannte Baerbock auf Nachfrage von Moderatorin Esra Küçük. Noch im ersten Jahr der neuen Legislaturperiode wolle sie ein Klimaschutz-Sofortprogramm auf den Weg bringen, ebenso eine Kindergrundsicherung.
Drittens will die 40-Jährige ein »Gesellschaftsministerium« schaffen, in denen die bisherigen Aufgaben des Innenministeriums und des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zusammengeführt werden. Innenpolitik dürfe nicht mehr nur im Zusammenhang mit innerer Sicherheit gedacht werden, betonte Baerbock. Das neue Ministerium soll nach ihrem Willen zudem die Belange von Menschen mit Migrationsgeschichte in den Blick nehmen. Die aktuelle Gesellschaft sei schließlich eine »postmigrantische«, die genannte Gruppe mache ein Viertel der Bevölkerung aus. Und sie sei in Wirtschaft, Kultur, Institutionen, Behörden, Gewerkschaften und Politik völlig unterrepräsentiert und mit Alltags- und strukturellem Rassismus konfrontiert.
Das Gesellschaftsministerium wäre schon die zweite Ressortkreation Baerbocks, nachdem sie sich zuletzt für ein Klimaschutzministerium stark gemacht hatte. Und es soll höchste Priorität haben, denn Baerbock liegen auch »Chancengerechtigkeit« in der Bildung und Geschlechtergerechtigkeit besonders am Herzen. Selbstkritisch zeigte sich Baerbock mit Blick auf die Lage aus Afghanistan Geflüchteter. Viele Asylanträge werden abgelehnt, abgeschoben wurde auch aus Bundesländern, in denen die Grünen Regierungspartei sind.
In der Diskussion ging Baerbock kaum auf Vorschläge aus der Runde ein. Jutta Allmendinger etwa fragte: »Wollen wir eine Politik, wo Frauen immer mehr Männer mit Vollzeitjob werden?« Ob nicht eine kürzere Arbeitszeit für alle, die allen mehr Zeit für politische wie gesellschaftliche Teilhabe und für die Familien gebe, sinnvoll wäre, fragte die Wissenschaftlerin. Baerbock äußerte sich dazu nicht, sondern erklärte lediglich, sie wolle den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für alle Kinder ab einem Jahr endlich durchsetzen. Das solle es Frauen erleichtern, Beruf und Familie besser zu vereinbaren.
DIW-Chef Fratzscher erinnerte an die enorm gewachsene soziale Ungleichheit. Es gebe »kaum ein Land, das einen größeren Niedriglohnbereich hat als Deutschland«, sagte er. Daraus resultiere in naher Zukunft ein »massives Altersarmutsproblem«. Baerbock stimmte zu, beklagte die Vielzahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Der viel zu niedrige Mindestlohn in der Bundesrepublik verschärfe die Ungleichheit in Europa auch wegen der damit in Verbindung stehenden hohen deutschen Exportüberschüsse. Womit die Politikerin auf der EU-Ebene landete und erklärte, dort müsse das Problem der Ungleichheit angegangen werden.
Die von Baerbock befürwortete Fortsetzung einer eher konfrontativen Außenpolitik etwa gegenüber Russland war in Baerbocks Rede kein Thema. Dafür soll nach ihrem Plan die Klimawende höchst integrativ und mit den Mitteln der Diplomatie gegenüber den für die Erderwärmung Hauptverantwortlichen erreicht werden. Man werde sie nur in breiten Bündnissen hinbekommen, sagte die Politikerin. Dafür gelte es unter anderem, die »ostdeutschen Wurzeln« der Grünen von Bündnis 90 wiederzuentdecken. Hier gebe es Erfahrungen mit Runden Tischen, an denen man sich »auf Augenhöhe« begegnen könne.
Mit Blick auf die Umbruchserfahrungen der Ostdeutschen, die Baerbock in ihrer Rede auffallend oft thematisierte, betonte sie: »Klimaschutz braucht eine starke Sozialpolitik.« Man müsse die gemeinsamen Interessen des 50-jährigen Bitterfelder Arbeiters in der Chemieindustrie und der 16-jährigen Berliner Umweltaktivistin herausarbeiten.
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Wie ein starker Sozialstaat und die für den Klimaschutz erforderlichen staatlichen Milliardeninvestitionen finanziert werden sollen, dazu äußerte sich Baerbock nicht. Sie sprach davon, dass »Startups« gefördert werden müssten. Dass man das »Verhältnis von Markt und Staat, das so ideologisch geprägt ist, aufbrechen« müsse. Dass bis zu 800 000 Arbeitsplätze im Zuge des ökologischen Gesellschaftsumbaus entstehen könnten, wenn man gemeinsam sage: »Wir machen das jetzt.« Gegenüber der von Abbau und Nutzung fossiler Rohstoffe lebenden Industrie, die für das Gros der CO2-Emissionen verantwortlich ist, setzt Baerbock und setzen die Grünen bekanntlich auf die Kraft der Überzeugung. Größere Abgaben sind für sie im Grünen-Wahlprogramm nicht vorgesehen. Den Beitrag, den sie zur Klima- und Energiewende leisten müssen, hat Annalena Baerbock in ihrer Berliner Rede nicht beziffert. Ihnen will sie auf keinen Fall zu nah treten.
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