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Alles Gewonnene sofort verschwelgt
Meuterei und Freiheitsmythos: In der Literaturzeitschrift »Die Horen« tummeln sich Piraten
Wer 1964 in Noordwijk aan Zee am Strand spazieren ging, konnte von dort aus das vor der niederländischen Küste ankernde Schiff des Piratensenders »Radio Veronica« erkennen. Einer, der das tat, war der achtjährige Rolf Parr. Der spätere Literaturwissenschaftler verbrachte den Sommerurlaub mit der Familie in dem Küstenort. Wie diese Piraten aussahen, glaubte er aus seinem damaligen Lieblingsfilm zu wissen: »Der rote Korsar« mit Burt Lancaster als Piratenkapitän Vallo. Die einander überblendenden Bilder und Fantasien, legt der Autor nahe, gehören zu jener Gemengelage, die im Rückblick einen Ausgangspunkt für die 68er-Revolution bildeten.
Tatsächlich gehören Piraten spätestens nach der Daniel Defoe zugeschriebenen Schilderung der auf Madagaskar verorteten Seeräuberrepublik Libertalia aus dem Jahr 1724 zum Grundbestand fortschrittlicher Freiheitsmythen. Sie bieten einen schier unerschöpflichen Fundus, der die Fantasie von Autorinnen und Autoren bis heute beflügelt, wie der »Allerlei Seestücke« betitelte Band 282 der Literaturzeitschrift »Die Horen« einmal mehr eindrucksvoll belegt. Die Seeräuber tummeln sich in zahlreichen Abenteuergeschichten, aber sie inspirierten von jeher auch Autoren, die später zur Hochkultur gerechnet wurden.
So sind von Friedrich Schiller mit »Das Schiff«, »Die Flibusters« und »Das Seestück« drei um das Jahr 1800 entstandene Dramen-Fragmente überliefert, in denen der Dichter das Piratenschiff als Ort beschreibt, an dem die Forderung der gerade ein paar Jahre zurückliegenden Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verwirklicht wird. Die Beute wird gerecht geteilt und meist unmittelbar in verschwenderischen Festen konsumiert. »Alles gewonnene«, heißt es bei Schiller, »wird gleich verschwelgt. Ungeheure Verschwendung und größter Mangel folgen schnell aufeinander.« Damit verstoßen die Piraten allerdings gegen die auf Akkumulation von Reichtum ausgerichteten Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft.
Der Kapitän wiederum wird gewählt und wenn er versucht, seine Befugnisse über den ihm obliegenden Bereich des Steuerns hinaus auszudehnen, sogleich wieder entmachtet. »Man hat Misstrauen gegen den Anführer«, so Schiller, »dass er die gemeine Sache verrathen wolle«. Daher, so der Literaturwissenschaftler Torsten Hahn, sei der Dichter auch fasziniert vom Thema der Meuterei, dass in allen drei Fragmenten eine Rolle spiele. »Ein Befehlshaber wird ausgesetzt, wenn das Schiff rebelliert hat«, heißt es in Schillers Fragment »Das Schiff«. Es handelt sich, so Hahn, um ästhetische Experimente, mit deren Hilfe der Dichter seinem Publikum vorführen will, wie Gleichheit und Freiheit möglich werden können.
Aber bei weitem nicht nur Linke nahmen sich die freie und ungebundene Lebensweise der Piraten zum Vorbild. Die Schriftstellerin Alida Bremer erinnert daran, dass sich auch jene protofaschistischen Freischärler, die sich um den italienischen Dichter Gabriele D‘Annunzio scharten und die Küstenstadt Fiume, heute Rijeka in Kroatien, von 1919 bis 1920 in ihre Gewalt brachten, als Piraten begriffen und sogar Schiffe überfielen, um ihre »Republik« zu finanzieren. »Die Legionäre und der Dichter«, so Bremer, »nahmen Kokain, badeten nackt im Meer, fühlten sich übermächtig in einer entfesselten, berauschenden Konstellation, die D‘Annunzio als ein dekadentes Gesamtkunstwerk entworfen hatte.«
Seine Absicht war es, Fiume der italienischen Nation anzuschließen. Obwohl die Verfassung, die D‘Annunzio von einem Sozialisten und Syndikalisten namens Alceste de Ambris hatte entwerfen lassen, dem späteren faschistischen Diktator Benito Mussolini mit ihrer Pressefreiheit und garantierten Rechten für Gewerkschaften im Ganzen zu demokratisch war, begeisterten sich dessen Schwarzhemden für die kurzlebige Gemeinschaft von Outlaws, die als »Kommune der Faschisten« in die Geschichte einging.
Es muss daher erstaunen, dass sich mit Hakim Bey ausgerechnet ein Autor, der sich der anarchistischen Utopie der herrschaftsfreien Gesellschaft verschrieben hat, für diese merkwürdige Piratenrepublik begeisterte und sie im gleichnamigen Kultbuch zum Paradebeispiel einer »Temporären Autonomen Zone« (1991) erklärte. Fiume, so Bremer, wurde »immer wieder von irgendwelchen Schriftstellern entdeckt, die sich für die realen Folgen dieses Abenteuers kaum interessieren und ihre eigenen Projektionen als größte Freiheit verklären.«
Mehr als ein halbes Jahrhundert nach D‘Annunzios Einmarsch in Fiume hielt erneut ein Pirat feierlich Einzug in das Territorium, das sich damals Jugoslawien nannte. Allerdings handelte es sich diesmal nicht um einen Seeräuber aus Fleisch und Blut, sondern um die Titelfigur eines TV-Mehrteilers.
Der Schriftsteller Jurica Pavičić erzählt, wie der Titelheld der italienischen Fernsehreihe »Sandokan« seit 1976 das Publikum im blockfreien Jugoslawien als heldenhafter antiimperialistischer Pirat im malaysischen Meer begeisterte. »Die britischen Kolonisatoren waren die Bösen, der antikoloniale Widerstand wurde als lobenswert dargestellt und der Held von einem Schauspieler aus dem freundschaftlich verbundenen Indien gespielt.«
Auf insgesamt 280 Seiten enthält der »Horen«-Band zahlreiche Stücke von fiktionaler und nonfiktionaler Kurzprosa, die das weit gefächerte Thema umkreisen. Hinzu kommen Gedichte sowie Darstellungen über die Rolle der Piraten im Universum der Asterix-Comics, das Nachleben der Piraterie auf der Opernbühne, im Film und im Videospiel und schließlich zahlreiche Illustrationen in Farbe und schwarz-weiß, darunter Fotografien mit Piraten-Grafitti.
Allerlei Seestücke. Im Handgemenge mit Piraten. Die Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik (Nr. 282),Wallstein Verlag, 280 S., brosch, 16,50 €
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