- Kultur
- Philharmonie
Immer den gleichen Stein den immer gleichen Berg hinaufwälzen …
Das Konzert als öffentlicher Raum: »A House of Call« von Heiner Goebbels auf dem Berliner Musikfest
Noch ist die Bühne der Berliner Philharmonie leer. Dann kommen die ersten Musiker*innen: einige Streicher und ein Hornist. Sie spielen auf ihren Instrumenten, schauen sich um; Holzbläser gesellen sich hinzu, nach und nach tröpfeln immer mehr Musiker*innen herbei. Der Dirigent entert die Bühne, er steht rechts, das Orchester, bei Weitem noch nicht vollzählig, ist seitlich zu ihm im Halbprofil platziert, nur die mächtige Ansammlung von fünf Pauken und allerlei Schlagzeug (mit vier Spieler*innen) ist hinten über die gesamte Bühnenbreite verteilt wie gewohnt.
Das Publikum tuschelt, das Licht im Saal ist noch an, es werden Instrumente gestimmt, und dann geht es überraschend los. Der Pianist gibt ein jazziges Motiv vor, einzelne Instrumentengruppen antworten, es hört sich etwas zerstückelt an. So wie die Art-Rock-Band Cassiber, in der Heiner Goebbels 1982 mit Christoph Anders, Alfred Harth und Chris Cutler spielte. Und genau, da ist es: Dieser Introitus, das Eingangslied, verwendet neben einem Exzerpt des »Répons« von Pierre Boulez den endlosen, barock anmutenden Orgel-Loop aus »O Cure Me« von Cassiber, den Goebbels seinerzeit auf einer billigen Heimorgel eingespielt hatte. Welch ein herrliches Durcheinander!
Rhythmisierte Streicherfolgen, Blechbläser-Sforzati, die E-Gitarre wummert, Harfentöne, Bläsertremoli, nervöse Flöten, ein ständiges Hin und Her zwischen solistischem und kollektivem Spiel. Alle haben etwas beizutragen, mal alleine oder in kleinen Gruppen, mal gemeinsam: Aufgeregtheit, Ideen, Einwürfe und Antworten. Wir sind mitten in der Uraufführung von »A House of Call«, dem neuen Werk von Heiner Goebbels mit dem Ensemble Modern Orchestra, das von Vimbayi Kaziboni geleitet wird. Damit wurde am vergangenen Montag in Berlin das diesjährige Musikfest eröffnet.
»A prolonged visit to a house of call« – diese Zeile findet sich in »Finnegans Wake« von James Joyce. »A House of Call«, schreibt Goebbels im Programmheft, sei »ein Zyklus mit Rufen, Aufrufen, Anrufungen, Beschwörungen, Gebeten, Sprechakten, Gedichten und Liedern für großes Orchester. Aber nicht das Orchester ruft, sondern es ist mit Stimmen konfrontiert; es präsentiert, unterstützt, begleitet sie, antwortet oder widerspricht ihnen – wie in einem säkularen ›Responsorium‹, einer gemeinschaftlichen Antwort des Orchesters auf die vielen einzelnen Stimmen, die mit ihren ganz eigenen Klängen und Sprachen zu hören sind.« Herausgekommen ist ein an Sinnlichkeit, Verstörung, Melancholie und Ekstase, Stimmenvielfalt und Betroffenheit kaum zu überbietendes aktuelles Meisterwerk, das jede Menge Fragen stellt. Und in – unsere Zeit reflektierenden – Widersprüchen spannende Antworten anbietet.
Im 19. Jahrhundert war das House of Call »ein öffentlicher Raum, in dem Mitglieder bestimmter Berufsgruppen, die gerade unbeschäftigt waren, neue Aufträge bekommen konnten«, in dem sie aufgerufen wurden, egal ob Schreiner oder Maurer, vielleicht auch Schauspieler oder Musiker. Goebbels fordert: »Auch das Konzert sollte ein öffentlicher Raum sein und nicht der persönliche Ausdruck des jeweiligen Komponisten.« Eine schöne Vorstellung, eine Utopie, ganz besonders in Zeiten der Pandemie.
Aufgeteilt ist dieses »Liederbuch für Orchester« in vier Kapitel. Das erste heißt »Stein Schere Papier« und verwendet den Text »Immer den gleichen Stein« aus Heiner Müllers »Traktor«, gelesen vom Autor. Dazu wird die Bühne abgedunkelt, zu hören sind Gewittergeräusche: während der Uraufführung von Boulez’ »Répons« 1981 bei den Donaueschinger Musiktagen schlug nach sieben Minuten der Blitz ein und die komplette Elektrizität in der Halle gab ihren Geist auf. »Immer den gleichen …«, Sforzato-Akkord des Orchesters. »Immer den gleichen …«, Orchester-Akkord, »… den gleichen Stein …«, Orchester, »den immer gleichen Berg hinaufwälzen«. Das Orchester antwortet auf die berühmte Sisyphos-Erzählung, kommentiert einzelne Worte und macht die Anstrengung erfahrbar, »das Gewicht des Steins zunehmend, die Arbeitskraft abnehmend mit der Steigung, Patt vor dem Gipfel«.
Es folgt »Under Construction«: Eine siebenminütige Collage mit Field Recordings von Baustellengeräuschen, die in unmittelbarer Nachbarschaft zu Goebbels’ gerade erworbenem Berliner Studio entstanden sind. Als die Räume fertig waren, in denen der Komponist zur Ruhe kommen und Musik schreiben wollte, begannen die zweijährigen Bauarbeiten mit all ihrem Lärm. Der Komponist als Sisyphos.
Immer wieder verwendet Goebbels alte Tonaufnahmen, die meisten aus dem Berliner Phonogrammarchiv, heute Teil des Ethnologischen Museums und des Lautarchivs der Humboldt-Universität. Diese Sammlungen sind in weiten Teilen höchst problematisch: Es handelt sich vornehmlich um geraubte Stimmen und Musiken zum Beispiel von Kriegsgefangenen, die von feindlichen deutschen Wissenschaftlern zu diesen Aufnahmen gezwungen wurden. Ein georgischer Soldat, Giorgi Nareklishvili, besingt den eigenen Tod und bittet seine Mutter, nicht zu trauern.
Wir hören dazu eine wilde Musik des virtuosen Sologeigers, der im Stil eines Balkanmusikers, der Schönberg und Berg kennt, wirbelt, unterstützt von E-Gitarre und Akkordeon, die sich mit dem wunderbaren, mehr als einhundert Jahre alten, von den Wachszylindern des Archivs herbeiwehenden Gesangsfetzen abwechseln und den gefangenen Soldaten/Sänger gleichsam zu neuem Leben erwecken. Den Wissenschaftlern war nur der aufgenommene Gesang des Kriegsgefangenen wichtig, nicht der Mensch. Die Musik von Goebbels nimmt just die Menschen ernst und lässt ihren Gesang neu erstehen und leuchten.
Voller Intimität die alte armenische Volksweise »Krunk« (Der Kranich), berückend gesungen 1914 vom legendären Opernsänger Armenak Shahmuradian (man kann sich leicht vorstellen, wie Goebbels »a slave to this voice« wurde, wie es auch in dem Lied selbst heißt) und 1917 von Zabelle Panosian.
Zur Ghasel (einer arabischen Gedichtform) »1346« des persischen Sufi-Mystikers Rūmī (1207-1273), ekstatisch gesungen von Hamidreza Nourbakhsh 2010 in Teheran, mutiert das Ensemble Modern Orchestra, unterlegt und angetrieben vom Cymbalon (das eben fast identisch ist mit dem persischen Santur), zu einem arabischen Salonorchester, das die charakteristischen Melismen gekonnt schleifen lässt, eindrucksvoll verdunkelt von lauten Kontrabässen und dröhnenden Blechbläsern. Die Philharmonie verwandelt sich in ein libanesisches, ägyptisches oder eben iranisches Konzerthaus, Umm Kulthum oder Fairuz könnten jeden Moment auf die Bühne kommen.
Einer der bedrückenden Höhepunkte des Abends ist im Kapitel »Wax and Violence« zu hören: Das Kratzen und Rauschen, das durch den Schimmelbefall auf den Wachswalzen hervorgerufen wurde, die auf den Rillen mikroskopische Mondlandschaften hinterlassen haben, führt zu einer »Musik vom anderen Planeten«. Wir hören die Stimme von Carl Stumpf, wie er 1916 die Aufnahmequalität des Phonographen testet; sein Assistent pfeift 1907 für die ersten derartigen Tests das Deutschlandlied, und Hans Lichtenecker lässt 1931 in Berseba, im Süden des heutigen Namibias, Schulkinder das Kirchenlied »Nun danket alle Gott« in der Sprache der Nama singen.
Die Kinder sind Nachfahren der Volksgruppe, die sich 1904 am mit äußerster Brutalität niedergeschlagenen Aufstand der Herero und Nama gegen die Unterdrückung durch deutsche Siedler und Kolonialbehörden im damaligen »Deutsch-Südwestafrika« beteiligt haben. Die Geigen fügen im Flageolett ersterbende, himmelschreiende Pianissimo-Klagegesänge hinzu, die das Grauen klanglich noch verstärken.
Als nächstes hören wir den 17-jährigen Haneb, der auf der Farm des Deutschen Lichtenecker bei Windhoek das Damara-Lied »Ti gu go I Nîga mî« (Some Of Them Say) a capella singt: Ein Lied, das eine gefährliche Situation beschreibt, in der eine Gruppe von Männern diskutiert, ob sie einen Damara-Jungen umbringen wollen. Heiner Goebbels, der auch stark von der Popmusik der 60er Jahre sowie von improvisierter Musik und Free Jazz geprägt wurde, und hier ganz besonders von den »großen, undomestizierbaren Orchestern« wie etwa dem Sun Ra Arkestra oder Charlie Hadens Liberation Music Orchestra, deren Einfluß auf das von ihm 1976 mitbegründete Linksradikale Blasorchester unverkennbar ist, dieser Heiner Goebbels hebt in dem einsamen Gesang von Haneb die einfachen südafrikanischen Kadenzierungen heraus, die er von Dollar Brand (aka Abdullah Ibrahim) kennt. So weit, so die Theorie.
Aber was Goebbels daraus in seiner Orchestermusik macht, zeigt seine Meisterschaft ebenso wie seine Sensibilität gegenüber nicht-europäischen Klangkulturen: Boys’n’Girls, wie es da swingt und groovt! Ganz zart, vorsichtig und lässig zunächst mit ein wenig Drums und Geigen-Pizzicati, dann immer entschiedener, exaltierter und freier, bis es in eine (klar: durchkomponierte) Free-Jazz-Orgie mündet, die jedoch stets auf dem südafrikanischen rhythmischen und harmonischen Grundpattern fußt.
Man könnte jetzt noch endlos von all den weiteren herrlichen Details dieser Komposition erzählen, von der tangoartig angehauchten, fugierten südamerikanischen Musik, die auf einem Bakaki (Dialog) einer indigenen Volksgruppe im Amazonas-Gebiet basiert, von der hundertjährigen Mutter des Komponisten, die mit dem Eichendorff-Vers »Schläft ein Lied in allen Dingen« zu hören ist – und ja, ganz offensichtlich trifft Goebbels immer und immer wieder das »Zauberwort«, das die Lieder zu neuem, zu heutigem Leben erweckt. Das griechische Lied »Kalimérisma« der Frauen von der Insel Kalymnos, die den Abgereisten einen Guten Morgen und den Schwamm-Fischern Wünsche und Grüße ausrichten, beendet diese große, fast zweistündige Orchester-Collage.
»Meine Identität ist mein Sound, den ich überallhin mitnehme«. Der syrische Musiker Nabil Arbaain hat in Berlin ein arabisches Musikinstitut gegründet
Das Orchester sprechsingt, nur vom Klavier und von einigen Blasinstrumenten zaghaft begleitet, in einer langen Schlußsequenz Worte aus einem der letzten Prosatexte von Samuel Beckett, die in einen Choral münden – »what when words gone«. Lang anhaltende Stille. Dann großer, nicht enden wollender Jubel.
Eines ist klar: Die Menschen befriedigt es, einen Stein den Berg hinaufzuwälzen. Hierin erleben sie Hoffnung. Riesig ist dagegen die Enttäuschung, wenn der Stein wieder den Berg hinabrollt. »Stein Schere Papier. Stein schleift Schere Schere schneidet Papier Papier schlägt Stein«, hörten wir im ersten Kapitel von Heiner Müller und dazu eine fast tänzerisch-schwelgerische Musik. Ihr versteht: das Papier (und die Worte, die darauf stehen) besiegt den härtesten Stein! Wir dürfen uns Heiner Goebbels, den fabelhaften Dirigenten Vimbayi Kaziboni, das fantastische Ensemble Modern Orchestra, nicht zuletzt aber auch die Hörer*innen dieses Werks als glückliche Menschen vorstellen.
Das Konzert kann noch bis zum 10.9.2021 auf Musikfest Berlin on Demand mit einem Festivalpass für 5 Euro abgerufen werden. Das sehr empfehlenswerte Begleitbuch »Materialausgabe« ist bei Neofelis erschienen und kostet 9 Euro.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.