- Kultur
- Querdenken
Nein, die Welt ist keine Scheibe
Anmerkungen zum sogenannten Querdenken
Im Feuilleton des »nd« gab es einmal eine Kolumne namens »Quergedacht«. Ich schrieb sie von Oktober 2016 bis Februar 2018. Es waren Aphorismen, geschmückt mit einer Selbstkarikatur als wiedererkennbares Logo. Ganz unschuldig bezog sich »Quer« auf das, was mein Lebenselement ist: Das Um-die-Ecke-Denken des Karikaturisten beim Ideenmachen.
Das Beschränken auf Bildideen beim Zeichnen hatte bei mir ein Überangebot an Wortfindungen ausgelöst. Nun schwelgte ich in Sprache und verfasste Kunstkritiken und Essays sowie eben solche Blitztexte für die Kolumne. Die umfassten 20 bis 30 Zeilen, sie waren ungefähr so lang wie eine Meldung. In ihrer Kürze näherten sie sich den natürlich viel witziger gesprochenen Einfällen unserer frech gebliebenen Solokabarettisten an. Mit diesen gemeinsam sind wir Karikaturisten vielleicht so eine Art Spaß-Querdenker. Und zu denen, die heutzutage meinen, »Querdenker« zu sein, ist einiges zu sagen.
Denn 2020 kam die Pandemie über uns. Sie verwirrte außer unserer körperlicher Gesundheit leider auch unsere Sinne. Das geliebt genutzte Internet spielt uns jetzt ein Quasi-Musterbeispiel von Demokratie als Anarchie vor. Blank geputzte Zauberworte wie »Social Media« kommen daher. Sie servieren kontroverse Meinungen aus der breitesten Öffentlichkeit. Schön und gut, wollten wir erst sagen. Dann aber Fäkalsprache neben Gewaltandrohung. Eine Unterfütterung mit wütenden Vorwürfen. Was in den Printmedien grundsätzlich eine gewisse Qualität haben muss, um veröffentlicht zu werden, ist hier außer Kraft gesetzt.
Vorher hatten beispielsweise die »Nachdenkseiten« als annähernd solide Quellen jahrelang mit faktenreich recherchierter Aufklärung einen mitdenkenden Durchblick kultiviert. Aber auch sie waren vor dem Zugriff der neuen Chaoten nicht sicher. Nun herrscht eine andere Tonart vor. Nirgends sonst wird dieser alte Satz so deutlich: Der Ton macht die Musik. Immer in heller Aufregung.
Offizielle Panikmache schlägt um in Anti-Stimmung. Mit vielerlei dunklen Andeutungen durchsetzt, geht manches gute Argument baden. »Querdenker« meldeten sich hier angeblich zu Wort. Schon changiert der freigesetzte Meinungsmix in die politische Realität. Lokale Gruppen sammeln sich zu Treffs. Demonstrationen geben lautstark Kunde von angeblich entsetzlichen Vorgängen.
Woher kam das? Wer verursachte das? Das müsste unser von den vielen gelesenen, gehörten und gesehenen Krimis im Ermitteln versiertes Normalpublikum nun fragen. Wer hat als Motivator und Organisator landesweit seit April 2020 ach so spontane Demos auslöst? War es nicht der Stuttgarter IT-Unternehmer Michael Ballweg? Der dann im November bei der Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl unter den Wählern eine »Massenbasis« von 2,6 Prozent erreichte? Hübsch, dass die Demokratie so schnell feststellt, wer legitim im Namen von anderen Menschen sprechen kann. Einige prominente, durch ihre klugen Einwürfe bekannte Künstler als Verbündete einzufangen, hatte sich ja wohl als schnell geplatzte Wunderrakete erwiesen.
Wer sich des Wortes »Querdenken« bedient, sollte wissen, was Wissenschaft damit meint. Da ist nämlich vom lateralen statt linearen Denken die Rede. Zu gut Deutsch: vom Querdenken statt Flachdenken. Ist denn unsere Erde nur eine flache Scheibe, auf der ein Spektakel abläuft? Was meint eigentlich »Quer«? Horizont erweitern. Durchblick. Vorurteile beiseite lassen. Ecken und Kanten wahrnehmen. Distanz wahren. Widersprüche erkennen. Will man Ideen finden, um brennende Probleme zu lösen? Da ist das linientreue Immer-nur-geradeaus-Denken denkbar ungeeignet. Dafür gibt es aus der politischen Geschichte genügend abschreckende Beispiele. Lediglich streng linear getroffene Entscheidungen stehen für die grandiosen außenpolitischen Misserfolge unserer gegenwärtigen Administration.
Der Umgang von Menschen miteinander ist nur in gemäßigter Tonlage ergiebig. Auf der anderen Seite steht immer der Staat als Gipfel der Systemrelevanz. Als Machtfaktor maßt er sich an, immer die Richtung zu befehlen. Dagegen muss demonstriert werden. Es geschieht allerdings eine Menge. Geeignete und verfehlte Maßnahmen. Nach medizinischen Erfolgen bürokratische Barrieren statt schnellem Handeln. Da kommt schon Unwillen auf.
Und Empörung ist angesagt, wenn die Top-Ökonomie Sponsoring erfährt, Bildung und Kultur aber baden gehen. Wenn dabei lockergemachte hohe Geldbeträge vielfach in den falschen Taschen verschwinden. Und nur die von dieser Krise Profitierenden lachen können.
Von ihnen war zum letzten Mal vor zehn Jahren bei »Occupy« die Rede. Heute bleibt gewissenloses Absahnen ungesühnt, wenn generell die Existenz einer Corona-Epidemie geleugnet wird und pauschal alle vom Staat dagegen ergriffenen Maßnahmen verurteilt werden. Und das soll Ergebnis von »Querdenken« sein? Wenn es kreuz und quer durch Mutmaßungen und Argwöhnungen bis zu Schuldzuweisungen geht, ist wirkliche Aufklärung in weiter Ferne. Globale Horrorszenarien peitschen zwar die Fantasie auf, lähmen aber das eigene Wirken dagegen.
Und nun sind die bisherigen Verwender des »Querdenker«-Begriffs die Blamierten. Nach dem in bestellter Häme untergegangenen Wort »Gutmensch« nun dies? Paradox wurde ein Nachruf für den unlängst verstorbenen »König Kurt« der Sachsen, den CDU-Politiker Kurt Biedenkopf. Er wurde mit dem Bekenntnis zitiert, er sei immer ein »Querdenker« gewesen. Diesen Satz musste man nun sofort richtigstellen: »aber nicht in der jetzt gebräuchlichen Weise«.
Tatsächlich beruhte Biedenkopfs zunächst kluges politisches Erfolgsrezept auf einer Art praktiziertem Querdenken. Statt den Sachsen als angeblich zurückgebliebenen »Ossis« ständig ihre politischen Fehler vorzuhalten, wurde er nicht müde, ihre besonderen Qualitäten in den Himmel zu heben. Wenn er nur dabei geblieben wäre. Streng linear boxte er dann ohne Wenn und Aber sein »marktwirtschaftliches« Gesellschaftsmodell durch. Mit fatalem Ergebnis. Denn der Weg zu Pegida und AfD ist dann keine bloße Abzweigung mehr.
Mehrere Nummern größer rangierte der vorübergehende Chefregent aller US-Amerikaner, Donald Trump. Ständig aus Twitter statt aus kontrovers agierenden Medien informiert, kam ein die ganze Welt schockierender Meinungssalat aus seinem Mund. Und seine Handlungen drohten oft genug ins nicht mehr Nachvollziehbare abzugleiten. Dieses warnende Beispiel totaler Orientierungslosigkeit ist doch wohl abschreckend genug.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!