Wir gegen die anderen

Von wegen unteilbar - wie die Bevölkerung in Gruppen mit konkurrierenden Interessen aufgeteilt wird

  • Stephan Kaufmann und Eva Roth
  • Lesedauer: 8 Min.

Geboren wurde die Unteilbar-Bewegung vor einigen Jahren aus dem Bedürfnis, sich dem Rechtsruck der deutschen Gesellschaft entgegenzustellen. Dieser Rechtsruck äußerte sich zunächst vor allem in einer Kritik an Zuwanderung von Schutzsuchenden aus dem Ausland. Der Spaltung in Inländer und Ausländer wurde »Wir sind unteilbar!« entgegengehalten. Die in dem Motto unterstellte Einigkeit jedoch existiert im politischen Diskurs nicht. Dort wird die Bevölkerung eingeteilt in Gruppen, die alle gegeneinander aufgestellt sind und die - folgt man dieser Einteilung - kaum gemeinsame Anliegen haben können. Eine Auswahl.

Passagiere vs. Streikende: Wenn Gewerkschaften bei der Bahn oder einer Airline einen Ausstand ankündigen, beginnen die Meldungen dazu mit großer Zuverlässigkeit mit dem Satz: Bahnreisende/Flugpassagiere müssen sich auf Streiks einstellen. So war es auch im aktuellen Arbeitskampf der Lokführergewerkschaft GDL. Ebenso zuverlässig werden sodann in Funk und Fernsehen Reisende gefragt, was sie von dem Ausstand halten. Darunter sind oft abhängig Beschäftigte, die mehr oder weniger verärgert sind - die allerdings eins gemeinsam haben mit den Streikenden (die seltener befragt werden): Wenn sie bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen wollen und das Unternehmen dies verweigert, bleibt ihnen als einzig wirksames Druckmittel der Arbeitskampf. »Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik wären nicht mehr als kollektives Betteln«, formulierte das Bundesarbeitsgericht im Jahr 1980. Ob man das GDL-Vorgehen gut findet oder nicht - das Streikrecht ist für Beschäftigte wichtig, für pendelnde Berufstätige ebenso wie für Lokführer oder Pflegekräfte.

Beschäftigte vs. Konsumenten: In den Industrieländern sind in den vergangenen Jahrzehnten die Unternehmensgewinne stark gestiegen. Denn die Beschäftigten wurden immer produktiver, gleichzeitig blieb die Lohnentwicklung zurück. Ursachen dafür waren unter anderem die Schwäche der Gewerkschaften, die Prekarisierung der Arbeit und die Verlagerung von Produktion in Billiglohnländer. All das, so Ökonomen, war aber ein Segen. Denn niedrige Löhne bedeuten niedrige Kosten und das bedeutet niedrige Preise. Profiteure der gewachsenen Ausbeutung seien also - die Konsumenten! Gleichzeitig gilt ihre Sparsamkeit als Grund dafür, dass höhere Löhne nicht möglich sind - Verbraucher und Verbraucherinnen sind zu geizig, zahlen keine höheren Preise, weswegen die Lohnkosten runter müssen. Der konstruierte Gegensatz von Beschäftigten und Konsumenten - beide stets in Personalunion existent - spielt derzeit beim Thema Inflation eine große Rolle: Ziehen die Löhne stärker an, mahnt die Commerzbank, wird auch das Preisniveau dauerhaft steigen. Der Geiz der Konsumenten verhindert also höhere Löhne, und höhere Löhne machen Konsumentinnen ärmer. In dieser Deutung der Realität fehlen lediglich jene, die von niedrigen Löhnen und hohen Preisen profitieren: die Unternehmen.

Mieter vs. Mieter: Die Mieten in Deutschland sind rasant gestiegen. Um Wohnen wieder bezahlbarer zu machen, wurde in Berlin ein Mietendeckel eingeführt - der war laut Ökonomen jedoch enorm schädlich. Nicht für Immobilieneigentümer, sondern für Mieterinnen und Mieter. Denn, so die Begründung, wegen des Mietendeckels sanken die Ertragsaussichten für Immobilienkonzerne, in der Folge bauten sie weniger Wohnungen. Dem folgte eine »alarmierende Angebotsverknappung«, so das Institut DIW. Während Bestandsmieter also durch den Deckel geschützt wurden, hatten Wohnungssuchende das Nachsehen. Sie fanden keine neue Bleibe mehr. Eine weitere »unschöne Nebenwirkung« des Mietendeckels war laut DIW: »Das verknappte Angebot in Berlin führt zu steigenden Mieten im gut angebundenen Umland.« In dieser Perspektive ist die Ursache für Mietenexplosion und Wohnungsmangel nicht der Renditeanspruch der Grundbesitzer, sondern die Politik, die dem Bedarf nach bezahlbarem Wohnraum zu entsprechen versucht.

Beitragszahler vs. Sozialleistungsempfänger: Die schwarz-rote Regierung hat in ihrem Koalitionsvertrag von 2018 versprochen: »Die Sozialabgaben wollen wir bei unter 40 Prozent stabilisieren.« Die Grenze einzuhalten, ist seit vielen Jahren Ziel parlamentarischer Mehrheiten. Der großen Koalition zufolge ist das im Interesse der Beschäftigten und Unternehmen.

Diesen Beitragszahlenden gegenüber stehen in der politischen Debatte Personen, die Sozialleistungen erhalten, etwa Arbeitslose und alte Menschen. Zwischen beiden Gruppen gibt es demnach einen Interessenkonflikt, insbesondere der Generationenkonflikt wird beschworen: »Immer mehr Rentnerinnen und Rentner werden von immer weniger Erwerbstätigen finanziert«, schreibt etwa das Bundeswirtschaftsministerium.

Bei dieser Einteilung werden Lohnabhängige nach einem Merkmal sortiert: erwerbstätige Beitragszahlende auf der einen Seite und auf der anderen arbeitslose, alte, kranke Leistungsbeziehende. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass sich die meisten Beitragszahler irgendwann im Leben in Sozialleistungsempfänger verwandeln - in Alte, Pflegebedürftige, Arbeitslose und Patientinnen und Patienten, deren Behandlung die gesetzliche Krankenkasse zahlt. Ein und dieselbe Person ist mal Erwerbstätige, mal Hilfeempfängerin. Die Sozialabgaben dienen dazu, sie für diese Fälle abzusichern.

In der Gruppe der Beitragszahlenden finden sich wiederum zwei gut unterscheidbare Gruppen mit widerstreitenden Interessen: Einerseits Unternehmen, für die es günstig ist, wenn die Personalkosten niedrig sind. Dabei spielt es für sie keine Rolle, ob die Kosten in Form von Bruttolöhnen oder Sozialbeiträgen anfallen. Anderseits Beschäftigte, die anständige Gehälter wollen und sich meist auch einen anständigen Sozialschutz wünschen - jedenfalls dann, wenn sie nicht so hohe Einkünfte haben, dass sie sich problemlos privat absichern können.

Die Abgaben dürfen nicht über die 40-Prozent-Grenze steigen: Dieses Mantra ist denn auch vor allem Unternehmen zugute gekommen. Zwar hat die Politik die Beiträge von Beschäftigten und Betrieben begrenzt. Faktisch wurde dadurch jedoch die sozialstaatliche Absicherung der Erwerbstätigen beschnitten: Bei Erwerbslosigkeit bekommen sie nur kurze Zeit Arbeitslosengeld und bei Pflegebedürftigkeit müssen sie einen Großteil der Kosten selbst tragen. Auch das Rentenniveau wurde gesenkt, um die Beiträge zu begrenzen. Faktisch hat das nur Unternehmen genutzt. Beschäftigte sollen nunmehr von ihrem Nettogehalt Geld aufbringen, um ihren Lebensstandard im Alter einigermaßen zu sichern.

Würden Betriebe die Arbeitgeberbeiträge an die Belegschaft auszahlen, wäre zumindest klarer, dass Beschäftigte beides - Löhne und Geld für Sozialschutz - von den Unternehmen erstreiten müssen.

Hilfebedürftige vs. Helfende: In der Altenpflege gibt es verbal einen breiten politischen Konsens, dass das Personal besser vergütet und durch Neueinstellungen entlastet werden soll. Eine sozialstaatliche Finanzierung dafür ist aber nicht in Sicht. Die Beiträge sind so niedrig, dass die Pflegeversicherung schon jetzt nur einen Teil der Kosten übernehmen kann. Eine bessere Finanzierung wäre durch ausreichend hohe Steuerzuschüsse möglich oder durch ein Zusammenlegen von privater und gesetzlicher Versicherung. Doch die große Koalition hat nichts von beidem beschlossen. Darum müssen viele Pflegebedürftige einen Großteil der Kosten selbst bezahlen, daran ändert auch die jüngste Reform nichts. Wenn die Gehälter der Pflegekräfte steigen, zahlen das also zumindest teilweise die gebrechlichen Menschen und ihre Familien, was für viele schwierig bis unmöglich ist. Schon jetzt sind etliche auf Sozialhilfe angewiesen. Trotz aller Bekenntnisse hat die Politik die gesetzliche Pflegekasse zu einer »Teilkaskoversicherung« verkommen lassen und verschärft damit den Konflikt zwischen den Belangen der Pflegekräfte und der Hilfebedürftigen.

Klimaschützer vs. Verbraucher: Ursache des Klimawandels, so liest man, ist letztlich die Gier der Menschen nach immer mehr: mehr Autos, mehr Reisen, mehr Wohlstand. »Es führt kein Weg daran vorbei«, schließt daraus die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »echter Klimaschutz bedeutet Verzicht.« Die mangelnde Verzichtsbereitschaft der Verbraucherinnen wiederum gilt als größtes Hindernis für effektiven Klimaschutz. Gleichzeitig stehen Klimaschützerinnen unter dem Verdacht, den Leuten das Leben vermiesen zu wollen.

Zu der Unteilbar-Demonstration am Samstag ruft ein breites Bündnis auf. Das »nd« hat mit vier Teilnehmenden über ihre Erfahrungen und Motive gesprochen

Was bei dieser Ursachenforschung geflissentlich übersehen wird ist erstens, dass der Kapitalismus ganz unabhängig von den Wünschen der Konsumenten einem Wachstumszwang unterliegt; dass zweitens nicht Konsumentinnen darüber bestimmen, was und mit welchen Methoden und Umweltfolgen produziert wird, sondern die Unternehmen; und dass drittens die Unternehmen nicht produzieren, um Menschen immer glücklicher zu machen, sondern um einen Gewinn zu erzielen. Zu diesem Zweck nutzen sie die Umwelt als billige Schadstoffdeponie und Ressourcenquelle, stellen sich ignorant gegenüber den Umweltfolgen - und drücken darüber hinaus ihre Lohnkosten, was für viele Verbraucher ökologisch produzierte Güter unerschwinglich macht.

Vereint im BIP: Die Marktwirtschaft produziert in ihrem Lauf nicht nur Güter und Dienstleistungen, sondern auch Arme und Reiche und Mittelschicht. Ungeachtet einer extremen Ungleichheit der Markteinkommen ist es üblich, all diese Einkommen zu addieren und als Bruttoinlandsprodukt (BIP) auszuweisen, das »unsere« Wirtschaftsleistung sein soll, »unser« Wohlstand. Das Possessivpronomen suggeriert, beim BIP handele es sich um einen gemeinsamen Reichtum, den »wir« herstellen und nutzen, jede und jeder an ihrem und seinem Platz: die einen als Finanzinvestoren, Unternehmer, Vermieterinnen, die anderen als Beschäftigte, Mieter und Arbeitslose. Wir alle sind dazu aufgerufen, uns um das BIP zu sorgen, sein Wachstum zu befördern und uns zu diesem Zweck vor allem eins ans Herz zu legen: die Wettbewerbsfähigkeit »unserer« Wirtschaft, also »unserer« Unternehmen, die zwar nicht uns gehören, von denen wir aber abhängig sind.

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