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Kein Hörsaalwissen

Mit dem Roman «Wunsch der Verwüstlichen» wird Mesut Bayraktar «konfrontativer Literatur» gerecht

  • Glenn Jäger
  • Lesedauer: 5 Min.

Mutter war an einem Septembermorgen gestorben.« Der erste Satz sitzt, die nächsten werfen kurzzeitig Fragen auf. Bei der Bestattung trifft Karl, den Mesut Bayraktar in seinem neuen Roman als Ich-Erzähler auftreten lässt, nach 13 Jahren seinen Bruder Can wieder. Beiden wird ein Testament der besitzlosen Mutter zugespielt. Deren letzter Wunsch: eine gemeinsame Reise der ungleichen Brüder. Karl zögert, verstimmt von Cans langem Abtauchen. Doch bald geht es nach Italien, wo die Handlung durch die Begegnung mit Nastasja, einer aus Odessa geflohenen Schauspielerin, jähe Wendungen erfährt.

Wenn beim Lesen anfangs Unruhe aufkommt, so hat das mit der Erwartung zu tun. Übernimmt sich der Autor nicht etwas mit den Gattungen, die er bespielt? Journalistische Arbeiten, Theaterkritiken, Erzählungen, Gedichte, ein Drama und jüngst auch noch ein Werk zu Hegels Philosophie des Rechts. Doch schnell zeigt sich: Bei Mesut Bayraktar bereichern sich die Genres einander.

Die triftigere Frage, die sich bei den ersten Personenskizzen stellt: Geht so jene »konfrontative Literatur«, die Bayraktar selbst aufs Schild hob? Und die der Literaturzeitschrift »nous«, deren Mitbegründer er ist, den Untertitel verleiht. Muss es da nicht, wie etwa in seiner Kurzgeschichte »Die Unbeugsamen« – Hausbesetzung, Staatsarmada, Krieg den Palästen – etwas mehr krachen?

Schlagen wir mal nach in dem kleinen Manifest zur »konfrontativen Literatur« (»nous« #10, 1/2020). Es liest sich wie die Folie für den Roman. Das »Brandeisen sozialer Erniedrigung«, so beginnt der Text, habe sich ihm als Jugendlichem eingedrückt. Der Vater stand vom Essen auf, die Spätschicht rief. Aus dem Fenster sah Bayraktar den Vater plötzlich den rechten Fuß nach vorne werfen, als wäre das Bein »aus Pappe«. Die Geste barg eine »Chiffre von der Einkörperung sozialer Gewalt«: 30 Jahre Arbeit in der Metallindustrie »wurden mit drei Bandscheibenvorfällen bezahlt«. Wer sind die »Subjekte konfrontativer Literatur«? Das ergebe sich aus dem »Tritt, den man mir, meinem Vater, meiner Mutter, meinen Brüdern, meinen Freunden, meiner Klasse versetzt« habe.

Als Figuren tauchen sie im »Wunsch der Verwüstlichen« wieder auf. Auch der Konflikt zwischen Hand- und Kopfarbeit mit der drohenden Entwurzelung des Protagonisten von seiner sozialen Herkunft trägt autobiografische Züge. »Hat nach seinem Jurastudium gezweifelt, ob er wirklich in die Justiz gehört«, verrät die Notiz zum Autor.

»Unser ältester Sohn denkt, er wird schlauer, wenn er die Universität besucht«, haut der Vater auf den Tisch, »und sich mit Studenten anfreundet, die uns nach ihrem Abschluss in der Firma mit Zahlen und Tabellen das Leben schwer machen«. Wozu Bücher in die Hand nehmen? Damit er sich nicht alles gefallen lassen muss, verteidigt die Mutter Karl.

Als der schließlich Richter wurde, klopften die Kollegen dem Vater auf die Schulter – während Karl zweifelte: Es war »so weit gekommen, dass ich nicht mehr ihre Sprache sprach«. Als er die Eltern in deren Schrebergarten besucht, wo die Mutter Kartoffeln erntet statt Zierpflanzen zu pflegen, hat er unversehens Erde unter den Fingernägeln. »Bildung kann arrogant machen«, wird ihm gewahr, »und ja, ich war arrogant«.

Solche Rückblicke flankieren die etwas andere Italienreise. Auf der Autofahrt herrscht eisernes Schweigen zwischen den Brüdern. Die Jahre, in denen sich Can davon-, ja: aus der Verantwortung gestohlen hatte, liegen wie Blei zwischen ihnen. Die Passage, in der sich der Konflikt vor dem Dom von Florenz entlädt, gehört zu den beachtlichsten, die die jüngere Literatur bereithält. Die Sprache eindringlich, dicht, jetzt stimmt jede Metapher. Schonungslos wird der Widerspruch zwischen bürgerlichem Hörsaal- und, Achtung, angestaubter Begriff: proletarischem Erfahrungswissen offengelegt.

Dieses »aufgeblasene Leben« – Richter, verheiratet, Kind – könne er nicht, so Can. Aber auch der Zustand des Vaters, die »Muskeln in die zerborstenen Knochen gefallen«, war Can »unerträglich«. Was habe der Vater für »das ganze Kämpfen und Leiden«, für 30 »verdammte Jahre« in der Gießerei bekommen? Ein Dankeschön? Nein, bloß »einen Arschtritt«, als er »überzählig« wurde. Während Cans Ausbildung an der Seite des Vaters sei einmal jemand dahergekommen, »direkt aus der Uni«, dem »alles in der Halle gehörte«. Nach Feierabend ließ dieser den Vater noch Maschinen putzen. Denn in dessen Alter sei es »auf dem Arbeitsmarkt nicht gerade leicht«. Kurz davor, alles »zu zertrümmern«, schlug sich Can bald anderswo durch. Spanien, Italien, Brasilien. Hafenarbeit, Staplerfahrer, Erntepflücker.

Der Konflikt löst sich am Fuße der Kathedrale nicht auf. Die Spannung bleibt aufrecht, auch mit Hilfe der Figur der Nastasja, die dem Roman Leichtigkeit und Tiefe zugleich gibt. Die Schauspielerin kann Sehnsucht noch buchstabieren. En passant erinnert Bayraktar mit ihr an den Krieg in der Ukraine, an den Brand des Gewerkschaftshauses von Odessa, an die geschlossenen Theater im Land. Nastasja will zurück ans Schauspiel von Donezk, um »auf der Bühne Lügen zu zeigen, die die Wahrheit erkennen lassen«.

Eine klare Sprache trifft den Gegenstand. Sie müsse ein »konfrontatives Moment« bergen, so der Autor in seinem Manifest. Darin steckt er das Erbe ab: Brecht, Seghers, Hacks, Baldwin und anderen war die »Lust an der Konfrontation gemeinsam«. Denn: »Konfrontation ist Frische, ist Morgenluft.« Die lässt sich auch in »Wunsch der Verwüstlichen« atmen, einem Roman, der dem eigenen Auftrag gerecht wird: Erklärtermaßen verleiht Bayraktar den Besiegten, Geschlagenen und Gedemütigten eine Stimme. Wie er das macht, beeindruckt. Zumal in der Dramaturgie des Bruderkonflikts aufscheint: Ihresgleichen mögen dereinst nicht mehr besiegt, geschlagen und gedemütigt sein.

Mesut Bayraktar: Wunsch der Verwüstlichen. Autumnus-Verlag, 197 S., geb., 18,95 €.

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