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Geschwächt zurück auf die Straße

Klaus-Jürgen Nagel über die katalanische Unabhängigkeitsbewegung vor dem Feiertag »La Diada«

Der 11. September steht in Katalonien für die Unterwerfung durch Spanien 1714, als bourbonische Truppen Barcelona während des Spanischen Erbfolgekriegs eroberten. 2020 entfielen wegen der Corona-Pandemie die üblichen Massenkundgebungen für die Unabhängigkeit am Feiertag »La Diada«. Was ist 2021 zu erwarten?
Die zivilgesellschaftliche Katalanische Nationalversammlung (ANC) hat 2021 wieder zu einem Marsch für die Unabhängigkeit aufgerufen, diesmal zum Parlament. Der Slogan heißt »Lluitem i Guanyarem la independència« (Wir kämpfen und wir werden die Unabhängigkeit gewinnen). Wie groß der Marsch ausfällt, ist die spannende Frage. 2019 waren laut Polizeiangaben 600 000 Menschen auf den Straßen, in der Hochphase der Unabhängigkeitsbewegung waren es seit 2012 bis 2017 immer mehr als eine Million. 2021 rechne ich nicht mit solchen Dimensionen.

Weniger Teilnehmer, weil der Katalonien-Konflikt, der 2017 rund um das Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober weltweit für Schlagzeilen sorgte, eingeschlafen ist? Keine Lösung in Sicht, aber auch keine neue Konfrontation. Trügt diese Fernsicht?
Nein. Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung ist sich uneins, wie man weiter vorgehen will. Und zwischen Barcelona und Madrid ist der Konflikt eingefroren. Keine Seite will sich derzeit bewegen. Wer sich zuerst bewegt, läuft Gefahr, bei seinen eigenen Anhängern zu verlieren, weil der Vorwurf des Verrats erhoben werden könnte. Und ein Vermittler ist nicht in Sicht. Sowohl die sozialdemokratische spanische Regierungspartei PSOE als auch die spanische Rechte sind sich ja in ihrer Sicht auf den Katalonien-Konflikt im Grunde einig: Das ist kein Konflikt zwischen Spanien und Katalonien, sondern ein innerkatalanischer zwischen Unabhängigkeitsbefürwortern und -gegnern. Richtig daran ist, dass die spanische nationale Position immer einiger war als die katalanische nationale Position. Was übersehen wird: Lagerübergreifend sind nach wie vor über 70 Prozent der Katalanen der Meinung, dass sie das Recht haben, selbst darüber zu entscheiden, ob ein Verbleib in Spanien oder die Unabhängigkeit bevorzugt wird. Bei den jüngsten Umfragen waren 49 Prozent gegen die Unabhängigkeit, 45 Prozent dafür. Das Grundproblem bleibt damit ungelöst: Spanien verweigert mit Ausnahme der Linkspartei Unidas Podemos das Recht auf Selbstbestimmung für Katalonien, was dort lagerübergreifend reklamiert wird.

Klaus-Jürgen Nagel
Klaus-Jürgen Nagel ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona. Seine theoretischen Fachgebiete sind Nationalismus, Föderalismus und die Geschichte Kataloniens. Er ist unter anderem Autor des Buches »Katalonien – Eine kleine Landeskunde« von 2007, das leider vergriffen ist. Über den Stand des Unabhängigkeitsprozesses vor dem Feiertag »La Diada« am 11. September sprach mit ihm Martin Ling.

Worin besteht die Uneinigkeit in der Unabhängigkeitsbewegung?
Es geht um die Interpretation des Unabhängigkeitsreferendums vom 1. Oktober 2017. Dass es gegen Spaniens erklärten Willen überhaupt durchgeführt werden konnte, war ein großer Erfolg aus katalanischer Sicht. Wie weiter, war von Anfang an umstritten. Die einen wollten das Votum für die Unabhängigkeit als Verhandlungsbasis nutzen, die anderen damit an einer allmählichen Entkopplung von Spanien arbeiten, und die Radikalsten wollten mit einem Übergang zum zivilen Ungehorsam die Gunst der Stunde für einen schnellen Bruch mit Spanien nutzen. Und diese strategischen Gegensätze gibt es bis heute. Die mit Pere Aragonès den katalanischen Regierungschef stellende linksrepublikanische ERC setzt auf Verhandlung, ihr Koalitionspartner, die zentristische Junts per Catalunya auf Entkopplung und die linksradikale CUP auf zivilen Ungehorsam. Letztere beide sind sich einig, an einem unilateralen Kurs zur Unabhängigkeit festzuhalten, die ERC ist davon wegen der Erfahrung von 2017 abgerückt. Und in der Bevölkerung gibt es viel Frustration über die Uneinigkeit in der Politik und die fehlenden Fortschritte im Unabhängigkeitsprozess.

Im Juni wurden die neun katalanischen Politiker und Aktivisten, die für die Vorbereitung und Durchführung des Unabhängigkeitsreferendums am 1. Oktober 2017 zu langen Haftstrafen verurteilt wurden, begnadigt. Eine Geste und sogar ein Schritt zur Befriedung?
Es ist die einzige ernsthafte Geste des seit 2018 amtierenden Ministerpräsidenten Pedro Sánchez überhaupt. Und es war nur eine Begnadigung unter Bedingungen und keine Amnestie, wie sie von katalanischer Seite gefordert wurde. Eine solche Amnestie gibt es hingegen bis heute für Verbrecher aus der Franco-Diktatur (1939 bis 1975). Ein individueller Erlass eines Teils der Reststrafe trifft den Sachverhalt besser als Begnadigung. Sie durften auf Bewährung aus dem Gefängnis raus, haben aber nicht alle Rechte, dürfen sich nicht zur Wahl stellen zum Beispiel. Und viele andere Verfahren um das Referendum laufen weiter. Davon sind über 3000 Katalanen betroffen, von Bürgermeistern über Parlamentarier bis hin zu Wahlhelfern. Mit diesem Vorgehen der spanischen Justiz wird die Geste von Sánchez konterkariert. Befriedung ist so nicht zu erreichen.

Keine guten Voraussetzungen für den Dialog zwischen den Regierungen in Madrid und Barcelona, der in den kommenden Wochen endlich beginnen soll ...
Nein. In Katalonien sind viele der Auffassung, dass die ERC wenig dafür bekommen hat, dass sie in Madrid Pedro Sánchez ins Regierungsamt gehievt und auch seinen Haushalt mitgetragen hat, wo er auf die ERC-Stimmen angewiesen ist. Und für den runden Tisch gibt es keine Vorabsprachen; es ist nicht klar, ob Sánchez da selber auftaucht, worüber konkret geredet werden soll. Sánchez ist ein erklärter Gegner eines Selbstbestimmungsreferendums. Dass mit dem runden Tisch der eingefrorene Konflikt schnell aufgetaut werden kann, ist unwahrscheinlich.

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