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Wie kommt der Klimaschutz ins Kanzleramt?
Drei Klimaaktivisten diskutieren über Proteststrategien nach der Wahl, Zeitdruck und das Problem des »Alle-Mitnehmens«
Seit fast vier Wochen befindet sich eine Gruppe Jugendlicher im Hungerstreik am Kanzleramt, weil sie den Eindruck haben, es wurde alles schon versucht: Man hat die Wissenschaft auf seiner Seite, es gab Großdemos, spektakuläre Aktionen und sogar höchstrichterlichen Beistand vom Bundesverfassungsgericht. All das hat die Klimakrise zwar endlich auf die Agenda gesetzt, aber die nötigen Maßnahmen stehen immer noch aus. Ist die Lage in der Klimapolitik so schlimm, dass nur noch ein Hungerstreik als letztes Mittel hilft?
Malte Hentschke-Kemper: Ich bin sehr beeindruckt davon und auch ein Stück weit besorgt um die Gesundheit der jungen Menschen. Aber wenn sie kein anderes Mittel mehr sehen, verdeutlicht das noch einmal die Dringlichkeit der Klimakrise. Die Folgen sind schon jetzt immer stärker spürbar, zugleich wurde in den letzten Jahren sehr, sehr wenig gehandelt. Es ist allerhöchste Zeit, dass die neue Regierung jetzt die Weichen stellt.
Malte Hentschke-Kemper ist stellvertretender Geschäftsführer und Referent Klima- und Energiepolitik bei der Klima-Allianz Deutschland. Die 140 Mitgliedsorganisationen repräsentieren zusammen 25 Millionen Menschen.
Clara S. Thompson ist Autorin, Klimaaktivistin und Studentin der Soziologie mit Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation. Sie gehört zum Autorenstamm der nd-Klimakolumne »Heiße Zeiten«.
Lasse Thiele arbeitet im Konzeptwerk Neue Ökonomie am Thema Klimagerechtigkeit. Der unabhängige, gemeinnützige Verein macht sich für eine sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft stark. Thiele ist regelmäßiger Autor der nd-Klimakolumne.
Clara S. Thompson: Ich sehe in dem Hungerstreik eine ganz natürliche Entwicklung der Klimagerechtigkeitsbewegung. Wenn man jahrelang auf die Straße geht, Proteste organisiert und dann nichts passiert, findet natürlich eine Radikalisierung statt. Dass die jungen Menschen jetzt das Mittel des Hungerstreiks wählen und sogar bereit sind, ihr Leben zu riskieren, zeigt die Verzweiflung, die gerade viele Junge angesichts der Klimakrise spüren.
Müssten wir jetzt also alle hungerstreiken, um noch mehr Druck zu machen?
Hentschke-Kemper: Wir hören aus sehr vielen Ecken, auch aus der Industrie, von Kommunen, dass die Bereitschaft zur Klimawende da ist. Warum aber hat sich bei den Maßnahmen noch nicht viel verändert? Ich glaube, Klimagerechtigkeitsbewegung und Zivilgesellschaft müssen den Weg, den wir in unterschiedlichen Rollen in den letzten Jahren gegangen sind, zusammen weitergehen. Wir brauchen gesellschaftlichen Rückhalt, um die nötigen Maßnahmen gemeinsam durchzuführen. Doch wie kommen wir endlich ins Handeln? Klar ist, die Treibhausgasemissionen müssen bis 2030 global halbiert werden, Deutschland muss da noch viel, viel mehr machen. Das müssen die gewählten Parteien nach der Bundestagswahl umsetzen, aber wir sind natürlich nicht sicher, dass es passieren wird.
Und wie stellt sich da die Umweltbewegung auf? Die einen sitzen in den Gremien, andere gehen bis ans Äußerste. Ist das »Getrennt wandern, gemeinsam schlagen«? Oder gibt es da auch Differenzen?
Lasse Thiele: Es geht ja nicht nur darum, einzelne Forderungen durchzusetzen, sondern wir sprechen über nichts weniger, als die gesamte Gesellschaftsordnung, das gesamte Wirtschaftssystem, die gesamte politische Landschaft umzukrempeln. Das innerhalb von wenigen Jahren zu leisten, ist für eine soziale Bewegung nahezu unmöglich. Gemessen daran, schlägt sich die Bewegung gar nicht mal so schlecht. Gerade in den letzten Jahren wurden die hegemonialen Verhältnisse schon deutlich verschoben - das sieht man ja gerade an den heftigen Gegenreaktionen wie jetzt aus dem Autolager vor einer Woche. In der Bewegung gibt es eine lebendige Debatte darüber, wie es weitergehen kann. Braucht es mehr Militanz, mehr massenhaften zivilen Ungehorsam? Oder muss man eben noch konsequenter auf breite Mehrheiten setzen, alle mitnehmen?
Was denken Sie?
Thiele: Ich glaube, es braucht mehr von allem. Es braucht auch viel stärkere Allianzen mit unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen, die von einem Systemwandel wirklich profitieren könnten, wie Migrant*innen oder prekär Beschäftigte. Dabei darf man sich vom Zeitdruck aber nicht so verrückt machen lassen.
»In der Coronakrise wurde auch nicht groß nach Rückhalt in der Bevölkerung für die Maßnahmen gefragt.« Clara S. Thompson
Thompson: Malte Hentschke-Kemper hat vorhin gesagt, es braucht einen starken Rückhalt in der Bevölkerung. Doch wie ist das genau gemeint? Als die Coronakrise kam, wurde auch nicht groß nach Rückhalt in der Bevölkerung gefragt, sondern es war klar, dass wir Maßnahmen treffen müssen. Auch in der Klimakrise besteht akuter Handlungsbedarf. Ein Problem in unserem parlamentarischen System ist, dass Politiker*innen sehr davon abhängig sind, gewählt zu werden, wodurch ein Teufelskreis entsteht: Wie sollen wir wirksam Klimaschutz betreiben, wenn die Politik darauf wartet, dass eine Mehrheit in der Bevölkerung da ist, die aber wiederum die Krise erst wahrnimmt, wenn in der Politik entsprechend gehandelt wird?
Die Klimakrise lässt sich also auf demokratischem Wege nicht stoppen?
Hentschke-Kemper: Auch wenn das nötige Tempo der Maßnahmen fehlt, sehe ich keine Alternative dazu, Akzeptanz in der Breite der Gesellschaft zu erreichen. Daher ist es wichtig, diesen demokratischen Aushandlungsprozess zu haben. Unsere Philosophie als Klima-Allianz Deutschland ist es ja gerade, dass wir mit unseren vielen unterschiedlichen Organisationen breit in die Gesellschaft hineinwirken, dass wir einen Mehrwert leisten können zur gesamtgesellschaftlichen Debatte. In den letzten Jahren haben wir uns vor allem mit Gerechtigkeitsthemen beschäftigt, mit sozialen Fragen, aber auch mit Klimagerechtigkeit aus globaler Perspektive. Es braucht aber Zeit, mit den anderen Organisationen, Akteur*innen, Vertreter*innen gemeinsam Positionen zu finden und diese dann in die politische Debatte einzubringen.
Am Sonntag ist Bundestagswahl - in der Regel halten sich große zivilgesellschaftliche Organisationen bei parteipolitischen Aussagen zurück. Ist es angesichts der Dramatik der Entwicklung nicht an der Zeit, das zu überdenken?
Hentschke-Kemper: Als gemeinnützige Organisation sind wir parteipolitischer Neutralität verpflichtet. Aber natürlich schauen wir uns sehr genau die Parteiprogramme an. Wir haben gemeinsam mit German Zero und dem Nabu einen Klimawahlcheck veröffentlicht, der die Programme auf deren Klimawirksamkeit hin analysiert. Aber wir vereinen ein sehr breites Spektrum, sind auch im kirchlichen Bereich, bei Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbänden stark. Die Menschen in unseren Reihen werden wahrscheinlich auch unterschiedliche Parteien wählen.»Wir müssen für eine qualitativ andere Vorstellung von Wohlstand und gutem Leben werben.« Lasse Thiele
Thompson: Ich glaube an Aufgabenteilung innerhalb der Klimabewegung. Es gibt Gruppen, die die bürgerliche Mitte abholen, und es gibt Gruppen, die durch radikalere Aktionen Aufmerksamkeit generieren. Es ist ein Dilemma von sozialen Bewegungen, dass bei, sagen wir, »legalen« Demonstrationen der Protest oft für keine Empörung sorgt und daher nicht viel darüber geredet wird. Und wenn die Aktionsform gesellschaftliche Normen übertritt, wird sie schnell als zu radikal wahrgenommen. Davon kann Fridays for Future ein Liedchen singen. Am Anfang wurde mehr über den Schulstreik geredet als über die eigentlichen Inhalte. Was ich daher für entscheidend halte, ist, dass sich auch große Gruppen wie die Klimaallianz zu dieser Aufgabenteilung bekennen und radikalere Protestformen legitimieren, da es ein gemeinsames Ziel gibt.
Trotzdem noch mal die Nachfrage: Ist es egal, wer künftig regieren wird?
Thiele: Ich nehme es schon so wahr, dass Verbände zur Wahl mit Zaunpfählen winken - diese Zeichen können auch alle lesen. Und ich glaube, alle sind sich einig, dass es nicht egal ist, wer regiert, auch wenn kein Programm oder keine Regierungskonstellation uns annähernd in Richtung Klimagerechtigkeit bringen wird. Was ich bei vielen Verbänden innerhalb der Klima-Allianz vermisse, ist indes eine stärkere Konfliktbereitschaft. Es wird auch dann noch auf kooperative Politikberatung für Regierung und Ministerien gesetzt, wenn diese sich definitiv nicht beraten lassen. Diese Bravheit ist uns auch bei der Kohlekommission auf die Füße gefallen.
Mehr Konflikt und Radikalität, um das Nötige durchzusetzen - wo soll denn der Druck herkommen, wenn nicht Mehrheiten dahinterstehen?
Thompson: Wir sind jetzt bei der Frage angekommen, wie sozialer Wandel entsteht. Die sozialen Bewegungen haben in den letzten Jahren in Deutschland eine Bewusstseinsveränderung erreicht, dass alle vom Klima reden, auch Politiker*innen, die aber letztlich nichts machen. Diese spüren noch nicht genug Druck. Wenn wir uns andere Proteste in der Vergangenheit anschauen, als es etwa um die Einführung des Frauenwahlrechts ging, so hat das auch erst klein angefangen, dann wurde es immer radikaler, und es kamen immer mehr Menschen dazu. Ich denke, dass wir mit einem breiten zivilgesellschaftlichen Protest, auch mit radikaleren Aktionsformen Druck erzeugen. Eine Bewegung als eine Art Gegenmacht ist notwendig.»Es ist wichtig, den demokratischen Aushandlungsprozess zu haben.« Malte Hentschke-Kemper
Hentschke-Kemper: Ich kann dem zustimmen. Ziviler Ungehorsam hat in den letzten Jahren die Debattenfenster aufgestoßen, in die dann auch die Zivilgesellschaft reingehen kann. So können wir eben auch versuchen, die breite Mehrheit der Gesellschaft oder Akteure, die bislang eher zögerlich waren, mitzunehmen. Das ist sozusagen der schwerfällige Unterbau, der aber nötig ist, um diese Veränderungen dann zu begleiten. Die Themen in die Breite zu tragen, ist natürlich auch eine Frage der Kommunikation. Wie kann man mit den Inhalten und Forderungen Bevölkerungsgruppen erreichen, die mit dem Thema bisher wenig anfangen können, weil sie es einfach nicht verstehen? Es geht also um eine leichter zugängliche Sprache.
Wir hatten gerade eine Flutkatastrophe mit vielen Todesopfern - was soll man da noch erklären? Geht es jetzt nicht einfach um Maßnahmen, auch um Verbote, die unpopulär sind, um wenigstens das Zwei-Grad-Ziel zu retten?
Thompson: Ich kann mich dem nur anschließen. Um Sensibilisierung ging es vielleicht vor 20 Jahren. Da waren die Fakten zum Klimawandel längst auf dem Tisch. Jetzt geht es um Transformation, auch der zentralen Industrien in Deutschland wie der Autoindustrie. Ich glaube, wir schlittern mit der Kommunikation ein bisschen am Thema vorbei, denn es geht um eine grundlegende Veränderung. Konzerne wie VW werden wohl nie den inneren Antrieb haben, ihre Produktion zu überdenken. Warum sollten sie, wenn sie damit so viel Geld verdienen? Deswegen braucht es da jetzt einfach Druck von außen.
Thiele: Die Frage ist: Wie schafft man es, die Kräfteverhältnisse so zu verschieben, dass man irgendwie mit dem Organisationsgrad mithalten kann, den fossile Industrien und viele Kapitalinteressen haben, die ja nicht nur in Parlamenten sitzen, sondern auch in sämtlichen Ministerien und Behörden? Aktionen auf der Straße sind auf jeden Fall ein relevanter Weg. Das »Alle mitnehmen« darf aber auch nicht nur aus passiver Zustimmung bestehen. Menschen können mobilisiert werden durch konkrete Aussicht auf materielle Sicherheit und eine hohe Lebensqualität, etwa mehr Freizeit. Da entwickeln sich Dinge auch, etwa bei der Kampagne Deutsche Wohnen und Co enteignen in Berlin. Viele Menschen werden hier neu organisiert, weil es um eine klare, umsetzbare Forderung geht. Solche basisdemokratischen Projekte in der Breite durchzusetzen, ist eine wichtige Strategie, um Menschen zum Handeln zu bringen. Das kann auch länger brauchen als ein Denken in Legislaturperioden oder Emissionsbudgets.
Hentschke-Kemper: Aber wer soll entscheiden, dass jetzt das und das passieren muss? Im jetzigen System sind die politischen Entscheider*innen dafür vorgesehen. Und es gibt über Bürger- und Volksentscheide Möglichkeiten der direkten Beteiligung. Es gab ja auch den Bürger*innenrat Klimaschutz, wo wir im Beirat vertreten waren, der sehr konkrete Vorschläge vorgelegt hat. Also, das bleibt für mich eine offene Frage. Ich denke aber, wir sind uns einig, dass wir keinen Souverän wollen, der von oben herab einfach Dinge anordnet. Es muss dafür einen gesellschaftlichen Rückhalt und einen demokratischen Meinungsbildungsprozess geben.
Aber noch mal zum Thema Kommunikation: Es geht nicht darum, die Klimakrise besser zu kommunizieren, sondern: Was ist eigentlich das Gegenmodell? Also, welche positiven Veränderungen kommen mit der sozialökologischen Transformation auf die Gesellschaft zu? Ich glaube, dass viele Menschen kein Bild davon haben, dass es eher Ängste schürt, weil es um Veränderungen geht. Darin müssen wir besser werden.
Die Kampagne Deutsche Wohnen und Co enteignen ist ein gutes Beispiel: Es geht um bezahlbare Mieten, aber langfristig brauchen wir auch klimaneutrale Quartiere. Man hört jedoch nichts von Forderungen nach selbst erzeugtem Quartiers- und Mieterstrom. Marschieren die sozialen und die Ökobewegungen noch aneinander vorbei?
Thiele: Einige Initiativen der Kampagne denken durchaus in eine ökologische Richtung, beziehen Gebäudesanierung ein. Mit dem Argument, dass man im kommunalen Wohnungsbau ganz andere Möglichkeiten hat, das flächendeckend umzusetzen. Die Ansätze gibt es, aber da ist noch Luft nach oben in der Zusammenarbeit.
Sie wollen mit der Aussicht auf mehr Lebensqualität die Leute für die Klimawende gewinnen. Viele versprechen eine schöne klimaneutrale Zukunft. Aber muss man nicht stärker für die Einsicht werben, wir können so nicht weiterleben, es geht auch um Verzicht?
Hentschke-Kemper: Es wäre falsch zu sagen, jetzt kommt das rosarote Leben. Eine Klimawende wird massive Auswirkungen haben. Aber richtig ist auch: Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir die Freiheit der nächsten Generationen und ihre Möglichkeiten, ihr Leben zu leben, massiv beschneiden. Die Alternative, wenn wir nicht handeln, ist eben eine Dystopie, die niemand will. Wir können deutlich machen, das kostet uns soundsoviel Geld. Das kommt auch im Mainstreamdiskurs an. Man kann weitere Dinge aufzählen, wie den Verlust an Biodiversität oder von Freiheitsrechten junger Menschen. Ich glaube aber, eine positive Erzählung ist noch wichtiger.
Thompson: Ich kann die teils sehr hitzige Debatte über Verbote nicht nachvollziehen. Es gibt doch viele Verbote, die aber nicht als solche wahrgenommen werden, da sie Normalität sind. Man denke nur ans »Schwarzfahren«, das mit hohen Geldsummen bestraft wird, während Falschparken nur 10 Euro kostet. Wenn künftig neue Maßnahmen eingeführt werden, die dazu führen, dass gewisse Sachen in der gleichen Form nicht mehr ausgelebt werden dürfen, muss man sich die Frage stellen, ob es sich wirklich um ein Verbot oder um Verzicht handelt oder ob es nicht einfach eine Verschiebung dessen ist, wie wir als Gesellschaft zusammenleben.
Thiele: Wir müssen offensiv für eine qualitativ andere Vorstellung von Wohlstand und gutem Leben werben. Wenn es in der Verzichts- und Kostendebatte um ein paar Euro CO2-Preis und ein paar Euro Erstattung geht, ist diese darauf fokussiert, dass Menschen ihr individuelles Konsumlevel aufrechterhalten können. Das können wir aber nicht versprechen, da es nicht mit Klimagerechtigkeit unter einen Hut zu bringen ist. Es braucht eine Orientierung auf andere Konsumformen, auf kollektive Arten von Wohlstand und von Sicherheit, was auch eine Befreiung von bestimmten Marktrisiken und Zwängen bedeutet, die die Lebensqualität vieler Menschen erheblich erhöhen könnte.
Müsste nicht auch die Klassenperspektive Teil dieser neuen Erzählung sein? Ärmere Menschen haben ja einen viel kleineren ökologischen Fußabdruck als reichere, selbst wenn diese sich als ressourcenbewusst wahrnehmen.
Thompson: Für mich sind nicht die Konsument*innen in der Verantwortung, ihr komplettes Leben umzuwälzen, sondern in erster Linie die großen Industrien. Es ist zu leicht zu sagen, dass die Konsument*innen einfach andere Konsumentscheidungen treffen müssen, und dann hat sich das mit dem Klimawandel. Das ist natürlich ein Narrativ, das von den großen Industrien befördert wurde. So ist der CO2-Fußabdruck eine Erfindung von BP. Im Übrigen haben die Gewerkschaften teilweise schon in den 70er und 80er Jahren darüber gesprochen, dass bald eine Veränderung in der Automobilindustrie kommen wird. Es gab Debatten, ob man Produkte für ein alternatives Verkehrssystem bauen sollte, um nicht später Sozialpläne aufstellen zu müssen. Jetzt wird dies wieder aufgegriffen. Und da stellt sich die Frage, ob angesichts des unausweichlichen Wandels der Branche eine offensivere sozialökologische Strategie nicht überfällig ist.
Thiele: Es braucht auf jeden Fall eine Klassenperspektive. Es geht ja zentral um die Frage, wer sich eigentlich mit wem wofür und auch wogegen und gegen wen organisiert oder organisieren müsste. In großen Teilen der Klimadebatte kommen Klassenunterschiede nicht vor, oder sie dienen nur als Strohmann-Argumente, um die eine oder andere Reform schlechtzureden, aber nie aus dieser Konflikt- und tatsächlichen Organisierungsperspektive heraus.
Hentschke-Kemper: Klimaschutz ersetzt keine Sozialpolitik. Natürlich müssen wir Maßnahmen so ausgestalten, dass sie nicht sozial ungerecht sind oder soziale Ungerechtigkeiten noch verschärfen. Wir leben in einer zutiefst ungerechten Gesellschaft, und von den Folgen der Klimakrise sind gerade die Armen stärker betroffen. Deswegen brauchen wir auch ein Steuersystem, welches das reflektiert. Und zur Frage der persönlichen Verantwortung: Ich stimme zu, dass nicht die gesamte Last der Verantwortung auf das Individuum abgewälzt werden darf. Allerdings kann gerade das Konzept des CO2-Fußabdruckes oder zumindest die Konfrontation des Verbrauchers mit den Folgen seines Tuns zu guten Konsumentscheidungen führen. Und Menschen bekommen das Gefühl, dass sie es auch selber in der Hand haben.
Wir haben über Akzeptanz, Durchsetzbarkeit und die soziale Frage gesprochen. Andererseits haben wir den Zeitdruck. Wenn Sie sich nach der Bundestagswahl entscheiden müssten: Was wäre der Hebel, um in möglichst kurzer Zeit viel breit akzeptierte Veränderung zu erreichen?
Hentschke-Kemper: Für mich wären das die Energiepolitik und die Energiewirtschaft. Beim Kohleausstieg gibt es einen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass der früher erfolgen soll, also deutlich vor 2038. Wir fordern 2030. Zugleich müssen die erneuerbaren Energien ausgebaut werden. Hier gibt es in der Fläche immer wieder Konflikte. Trotzdem glaube ich, dass wir dafür eine sehr hohe Akzeptanz in der Bevölkerung haben.
Thompson: Ich denke, es braucht vor allem eine sehr starke Klimagerechtigkeitsbewegung, die sich in Teilen radikalisieren wird. Ich denke aber auch, dass es ein Demokratie-Update braucht in Form von institutionalisierten Bürgerräten, damit die Abhängigkeit der Politiker*innen von Wahlergebnissen durchbrochen werden kann. Und ich denke, dass in den nächsten Jahren ein großes Thema der Verkehr sein wird, also die Abhängigkeit von motorisiertem Individualverkehr. Das ist ein Bereich, in dem Veränderung und Transformation direkt im Leben der Menschen positiv spürbar ist.
Thiele: Der Kohleausstieg müsste eigentlich vor 2030 erfolgen. Das spart schnell Emissionen, ist aber eher eine technische Umstellung und macht wenig gesellschaftstransformativen Wind. Den können wir uns natürlich nicht von der nächsten Bundesregierung erhoffen. Aus Bewegungsperspektive gibt es einige Hebel, die langfristig noch wirksamer sein können, zum Beispiel eine deutlich selbstbewusstere Generationenpolitik der Jüngeren, die materiell völlig andere Interessen haben als die Älteren. Ich ziehe Hoffnung daraus, dass so viele 15- oder 16-Jährige bei Fridays for Future schon erfahrene Organizer*innen und politische Strateg*innen geworden sind. Und es gibt da in den nächsten Jahren noch eine Menge Entwicklungspotenzial. Auch wenn sich das emissionstechnisch vielleicht erst später niederschlagen wird.
Das Gespräch führten Ines Wallrodt und Jörg Staude.Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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