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Feuerwerk samt falschen Farben
Dietmar Daths »Gentzen oder: Betrunken aufräumen« ist ein kunstvolles Spiel mit literarischen Formen
Mancher tut sich mit der Lektüre von Dietmar Daths Büchern nicht immer leicht. Mitunter kann die Prosa des wohl produktivsten Schriftstellers des deutschen Literaturbetriebs etwas kryptisch sein. Der 51-jährige Autor, im kapitalistischen Lohnarbeitsberuf FAZ-Redakteur, schreibt im Grunde fast ausschließlich Science-Fiction. Die literarische, zumeist fiktionale und alles andere als beliebige Bearbeitung jener im Genrebegriff vorkommenden Wissenschaft nimmt dabei einen bedeutsamen Teil in seinem erzählerischen Werk ein. Das gilt auch für seinen neuen Roman »Gentzen oder: Betrunken aufräumen«, in dem es unter anderem um den Titel gebenden Mathematiker Gerhard Gentzen geht, einen der wichtigsten Vertreter der mathematischen Beweistheorie, die auch grundlegend für Bereiche der Informatik ist. »Gentzen oder: Betrunken aufräumen« ist ein 600-seitiger Rundumschlag durch Geschichte, Gegenwart, Zukunft, Reales, Fiktionales, Mathematik, Logik, Literatur, das feuilletonistische Alltagsgeschäft, Dietmar Daths ausschweifendes literarisches Werk, diverse erfundene und reale Biografien, das Superheldinnen-Universum und vieles mehr. Trotz seiner nicht gerade leicht zugänglichen Art, wurde der Roman - wie schon 2008 Dietmar Daths »Die Abschaffung der Arten« - für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Eine konzise Handlung dieses aus fast 140 Kapiteln bestehenden Romans zu benennen, ist kaum möglich. »Gentzen oder: Betrunken aufräumen« ist eher eine akribische Annäherung an verschiedene, ineinander verschlungene Erzählstränge, ein Spiel mit literarischen Formen, mit Sprache und dem Funktionieren mathematischer Beweise. »Ein Erzähltext ist kein Beweis, oder? Ist das Leben einer? Ist das Leben eher Beweis oder eher Erzählung?«, heißt es gegen Ende des mäandernden Romans, der stellenweise dann doch etwas wie einen Beweis zu liefern versucht. So suchen drei Freunde und WG-Bewohner, unter anderem ein gewisser Dietmar Dath, nach ihrem verschwundenen Mitbewohner, von dem aber keiner mehr weiß, wie er heißt und ob es ihn überhaupt wirklich gegeben hat. Lässt sich seine Existenz beweisen? Dann irrt eine verlorene Frau durch eine Innenstadt, die nicht mehr weiß, wer sie ist und wo sie sich befindet, wahrscheinlich ist sie obdachlos, aber im Lauf des Romans nimmt sie die Identität der Superheldin Erin Shvaughn an und leitet etwas ein, das zu nicht weniger als dem Ende der Menschheit führen könnte. Aber es diskutieren hier auch ganz ironisch Lady Gaga und Gerhard Gentzen in einem Club über Beweistheorien. Eine Frau namens Bettina (ebenfalls mit dem Dietmar Dath in diesem Roman befreundet), die für die Sozialistische Internationale unterwegs ist, trifft zahlreiche Menschen, diskutiert aber irgendwann dann auch einmal mit der antiken Schicksalsgöttin Ananke, die oft auftritt.
Es wird seitenlang über Mathematik, Logik, Informatik, Programmieren, Literatur, Theater und Beweise geredet und gestritten, immer wieder geht es auch zurück in die Geschichte, zu Gerhard Gentzen selbst, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg im Gefängnis in Prag starb und dessen Mithäftlinge in historischen Dokumenten vom Tod dieses Ausnahmemathematikers berichten, der wie so viele andere, wenn auch durchaus widerwillig, Teil des nationalsozialistischen Apparates geworden war. Aber es wird auch von einer Schwarzen Computer-Programmiererin in den USA erzählt, die sich im Arbeitsleben immer wieder gegen Rassismus wehren muss, irgendwann trotz Corona zu einer Black Lives Matter-Demonstration geht und ihre Informatik-Kompetenzen schließlich in eine selbst organisierte kollektive Struktur einfließen lässt, die sich gegen die Tech-Giganten und deren Inwertsetzung kreativer Arbeit richtet. All diese Geschichten laufen nebeneinander her, bis irgendwann klar wird, dass dieser fragmentierte Roman doch ein verbindendes dramaturgisches Element hat.
Ausgerechnet die postapokalyptische Erzählebene um eine Gruppe von mehreren migrantischen aus Deutschland stammenden Kämpfern, die in einem Pick-up durch ein verwüstetes Mitteleuropa in den 2030er Jahren fährt, ist der dramaturgisch und sprachlich am ehesten orthodox erzählte Teil des ganzen Romans. Eine geheimnisvolle, alles zerstörende Kraft, die als »falsche Farben« bezeichnet wird und die Gegenstände ebenso wie Lebewesen befällt, hat das Leben, wie wir es kennen, weitestgehend beseitigt. Nur noch wenige Menschen sind übrig. Die »falschen Farben« sind wie ein tödliches Zombievirus, das sich in einem bunt schillernden Schwarm Schmetterlinge oder in einer leuchtenden Tütensuppe verstecken kann und bei Berührung alles infiziert und tötet. Die Gruppe ist unterwegs nach Prag, um dort einen Wissenschaftler zu treffen, der angeblich etwas gegen diese Bedrohung erfunden hat. Im Fortlauf des Romans verknüpft dieser Erzählstrang wie ein roter Faden das Geschehen, die Ideen, das intellektuelle, politische und emotionale Ringen, das diese faszinierenden 600 Seiten durchzieht.
»Gentzen oder: Betrunken aufräumen« ist auch ein intertextuelles Feuerwerk, in dem zahlreiche Figuren aus anderen Romanen Daths auftauchen, wie Cordula Späth aus Daths Debütroman, der dieser Tage im Verbrecher Verlag neu aufgelegt wird, Vera Ulitz (aus »Der Schnitt durch die Sonne«) und andere Charaktere, die das fantastische Dath’sche Universum bewohnen. Neben dem Dietmar Dath, der einen verschwundenen WG-Mitbewohner sucht, gibt es noch einen weiteren Dietmar Dath, der nicht nur FAZ-Feuilleton-Sitzungen mit Frank Schirrmacher erlebt, sondern auch einen Roman schreibt und dem von einer Freundin immer wieder das Skript um die Ohren gehauen wird. Am Ende des Romans gibt es noch einen Ausblick, was aus dem Planeten Erde nach der Invasion der »falschen Farben« wird. Wie das Prag Mitte des 22. Jahrhunderts auf einem von den »falschen Farben« veränderten Planeten aussieht, was mit den neu gestalteten Bewohnern passiert, wie dies unter Umständen auch mit anderen Teilen aus Daths erzählerischem Werk zusammenhängt, all das schildert der Autor in einer fast schon verstörend schönen poetischen Dichte in einem Stück Prosa, das zum Besten gehören dürfte, was die Science-Fiction derzeit zu bieten hat.
Dietmar Dath: Gentzen oder: Betrunken aufräumen, Matthes und Seitz, 604 S., geb., 26 €.
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