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Evergrande und Chinas Kapitalismus
Trotz der gewaltigen Schulden des Immobilienkonzerns Evergrande ist mit keinem »Lehman-Moment« zu rechnen
Die drohende Zahlungsunfähigkeit des chinesischen Immobilienkonzerns Evergrande erschütterte am 20. September kurzzeitig die Weltbörsen. Für »westliche« Leser eine auf den ersten Blick vertraute Geschichte: Ein auf mittlere und hohe Preislagen spezialisierter Immobilienentwickler, geleitet vom reichsten Mann des Landes, profitiert von ständig steigenden Hauspreisen. Spekulativ orientierte Käufer investieren in oft erst auf dem Papier stehende Luxusimmobilien in der Hoffnung, diese später lukrativ verkaufen zu können.
Seit Jahren stiegen die Preise am chinesischen Immobilienmarkt rapide, eine Blase drohte zu platzen. Quadratmeterpreise von umgerechnet mehr als 15 000 Euro waren keine Seltenheit. Ähnliche Erscheinungen gibt es in China immer wieder: Vor allem nach 2008 entstanden in vielen Bereichen der Wirtschaft Überkapazitäten, deren Bereinigung die Schuldenlast der Unternehmen vergrößerte. Gesamtwirtschaftlicher Indikator ist eine extrem hohe Investitionsquote von 43 Prozent des Inlandsprodukts, die trotz staatlicher Bemühungen, den Konsum zu steigern, kaum zurückgeht.
Dies verweist auf eine für die kapitalistische Produktionsweise typische Verselbstständigung der Kapitalakkumulation, die nur krisenhaft gestoppt werden kann. Evergrande wirft daher ein Schlaglicht auf den Charakter der chinesischen Wirtschaftsordnung. Auslöser der aktuellen Krise waren Maßnahmen der Regierung, mit denen der auf Schulden basierende Immobilienboom gestoppt werden sollte: Das Programm »Drei rote Linien« begrenzt den Kreditzugang von Wohnungskäufern und -verkäufern, die Obergrenze für die Zahl von Wohnungen, die Einzelpersonen erwerben können, wurde gesenkt bzw. strikter gefasst.
In der Folge ging die Zahl der Immobilienkäufe zurück, was alle Immobilienentwickler unter Stress setzte und den besonders risikoreich agierenden Evergrande-Konzern an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Jetzt scheint der Immobilienboom erst einmal beendet, verbunden mit Verlusten für die Investoren.
Trotz der gewaltigen Schulden des Konzerns von umgerechnet 300 Milliarden US-Dollar rechnen die meisten Beobachter aber nicht mit einem neuen »Lehman-Moment«, das heißt einer mit der US-Finanzkrise von 2008 vergleichbaren Kettenreaktion. Die internationale Verflechtung von Evergrande ist relativ gering, die Risiken betreffen überwiegend das chinesische Kreditsystem. Auch kommen diese nicht überraschend, sie wurden zumindest teilweise von der Regierung bewusst in Kauf genommen, um kontrolliert Luft aus der Immobilienblase zu lassen. Anders als bei Lehman sind die Behörden vorbereitet, der Stress für das chinesische Kreditsystem war zu erwarten.
Entscheidend ist dessen Widerstandsfähigkeit. Obwohl die Verschuldung der chinesischen Unternehmen ein wachsendes Problem ist und kleinere Institute immer wieder in Schieflage geraten, wird das chinesische Bankensystem, der Bilanzsumme nach das größte der Welt, von sechs staatlichen Banken »erster Ordnung« dominiert. Unternehmensfinanzierungen erfolgen überwiegend über Bankkredite. Der Herausbildung eines Schattenbankensystems ist staatlicherseits enge Grenzen gesetzt.
Zwar erleiden auch Banken erster Ordnung Kreditausfälle, eine Kettenreaktion ist aber wegen staatlicher Garantien sowohl auf der Gläubiger- wie auf der Schuldnerseite wenig wahrscheinlich. Das sehen auch Beobachter im Westen so. Zwar wird China immer wieder geraten, das Finanzsystem »marktwirtschaftlich« zu gestalten. Im Krisenfall aber freuen sich auch marktradikale Ideologen, dass es dazu nicht gekommen ist. Denn die staatliche Kontrolle des chinesischen Kreditsystems ist auch global ein Stabilitätsanker.
Evergrande zeigt, dass auch in China die Akkumulation des Kapitals die wirtschaftliche Dynamik bestimmt, was zu partiellen Krisen und Ungleichgewichten führt. Bislang aber reicht die Steuerungskapazität der Regierung aus, um die Verselbstständigung und Ausweitung der immer wieder aufbrechenden Widersprüche zu gesamtwirtschaftlichen Krisen zu verhindern. Davon profitiert auch die labile Marktwirtschaft des Westens.
Jörg Goldberg ist Redakteur bei »Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung«.
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