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Hitze, Schmerz und Berührungen
Medizin-Preis ging überraschend an Erforscher von Sinneswahrnehmungen
Was verbindet manche Polizeieinsätze mit dem diesjährigen Medizin-Nobelpreis? Es ist ein kleines Molekül: Capsaicin. Die meisten Menschen haben schon den extrem scharfen Geschmack von Chilis erlebt, einige auch das Pech gehabt, mit sogenanntem Pfefferspray außer Gefecht gesetzt zu werden. Das in beiden enthaltene Capsaicin war der Schlüssel dazu, den Mechanismus der Wahrnehmung von Hitze und Schmerz aufzuklären.
Und zur großen Überraschung der anwesenden Journalisten verkündete der Sekretär der Nobelversammlung des Stockholmer Karolinska-Instituts, Thomas Perlmann, dass die beiden US-Forscher David Julius und Ardem Patapoutian den diesjährigen Nobelpreis für Physiologie oder Medizin für ihre grundlegende Erforschung der Temperatur- und Berührungswahrnehmung erhalten.
Überraschung deshalb, weil es selten eine so günstige Gelegenheit gegeben hatte, Wort und Geist des Nobel-Vermächtnisses umzusetzen. Der hatte in seinem Testament nämlich verfügt, dass der Preis an diejenigen gehen soll, »die im vergangenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen erbracht haben«. Vielfach wurde daher auf einen Preis für die Erfinder der mRNA-Technologie gesetzt, die den gegen die Covid-19-Pandemie so erfolgreichen neuartigen Impfstoffen zugrunde liegt.
Doch statt dieser Erwartung der Öffentlichkeit zu folgen, ehrt das für die Auswahl der Medizin-Preisträger zuständige Karolinska-Institut in Stockholm in diesem Jahr Arbeiten der Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Sinneswahrnehmung. In der Begründung wurde auf neue Behandlungsmöglichkeiten für chronische Schmerzen und zahlreiche andere Krankheiten verwiesen.
Dass wir Hitze oder Schmerz wahrnehmen, indem Reize über das Nervensystem ins Gehirn geleitet werden, schrieb schon der französische Philosoph und Wissenschaftler René Descartes im 17. Jahrhundert. Und die US-Mediziner Joseph Erlanger und Herbert S. Gasser identifizierten in den 1930er Jahren verschiedene Typen von Nervenfasern. Doch bis zu den Arbeiten von Julius und Patapoutian war unklar, wie Temperatur und mechanische Reize vom Nervensystem in elektrische Impulse umgewandelt werden.
Der 1955 in New York geborene David Julius hatte in den späten 90er Jahren an der University of California in San Francisco seine Arbeiten mit Capsaicin begonnen, dem Stoff, der für die feurige Schärfe von Chilischoten sorgt. Bekannt war da bereits, dass Capsaicin Schmerz wahrnehmende Nerven aktiviert. Deshalb hatte Julius mit seinem Team sämtliche Gene erfasst, die bei Schmerzwahrnehmung aktiv sind. Jedes davon wurde anschließend in Zellen aktiviert, die normalerweise nicht auf Capsaicin reagieren. Das letztlich gefundene Gen codiert für einen Eiweißstoff, der als sogenannter Ionenkanal in Zellmembranen fungiert, später TRPV1 genannt. »Seine Entdeckung hat eine riesige Welle in der Schmerzmittelforschung gestartet, die noch läuft«, sagte Gary Lewin, Arbeitsgruppenleiter vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin.
Auch Patapoutian beschäftigte sich anfangs mit Temperaturwahrnehmung und fand parallel das Protein TRPM8, das bei Kälte und im Kontakt zu Menthol reagiert. Vorrangig untersuchte Patapoutian dann aber, wie Druck und Berührungen vom Körper wahrgenommen werden. Er und sein Team kultivierten Zellen, die bei Druck einmessbares elektrisches Signal lieferten. In diesen Zellen wurden so lange Gene abgeschaltet, bis das Signal ausblieb. Mit dem zugehörigen Eiweiß war der erste Drucksensor der Zellen gefunden. Er bekam den Namen Piezo1, nach dem griechischen Wort für Druck.
»In der Wissenschaft ist es häufig so, dass die Dinge, die wir für selbstverständlich halten, von hohem Interesse sind«, sagte Patapoutian in einem Interview mit dem Nobelkomitee. »Für uns in der Erforschung von Berührungen und Schmerzen war das so was wie der große Elefant im Zimmer.«
»Ardem Patapoutian ist ein sehr zielstrebiger, charismatischer Mensch, aber er hat auch riesiges Glück gehabt, den Ionenkanal Piezo1 zu entdecken«, sagte Lewin, der ebenfalls an dem Thema gearbeitet hat. Die Entdeckungen der beiden Wissenschaftler führten zu zahlreichen Fortschritten in diesem Forschungsbereich. Die entdeckten Rezeptoren spielen nicht nur eine Rolle bei der Wahrnehmung äußerer Reize wie Temperatur oder Berührung, sondern auch bei der Regulierung von wichtigen inneren Körperfunktionen, etwa dem Blutdruck, der Atmung und der Kontrolle der Harnblase.
Julius und Patapoutian haben bereits zuvor zahlreiche Auszeichnungen bekommen - erst 2020 etwa den hoch angesehenen Kavli-Preis für Neurowissenschaften.
Die Anrufe aus Schweden erreichten die beiden Wissenschaftler in den USA zu nächtlicher Stunde. Es sei schwierig gewesen, mit den beiden Preisträgern in Kontakt zu kommen, hieß es vom Nobelkomitee. Als er sie dann doch telefonisch erreicht habe, hätten sie überrascht und sehr, sehr froh reagiert, erzählte der Sekretär der Nobelversammlung des Stockholmer Karolinska-Instituts, Thomas Perlmann.
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