Covid-Impfstoffe in den Müll

Reiche Länder werden bis Ende des Jahre eine Milliarde Dosen zu viel gehortet haben

Zehn reiche Länder werden bis Ende des Jahres zusammen 870 Millionen überschüssige Dosen Impfstoff gegen Covid-19 horten. Das geht aus einem kürzlich veröffentlichten Report von Ärzte ohne Grenzen hervor. Die internationale Hilfsorganisation fordert darin die Staaten auf, diese Dosen so schnell wie möglich an ärmere Länder abzugeben.»Es ist unerträglich, dass in einer andauernden Pandemie manche Länder Millionen Dosen zu viel einkaufen und Impfstoffe teilweise sogar verfallen lassen, während andere noch nicht einmal Hochrisikogruppen und das gesamte Gesundheitspersonal schützen können«, sagt Impfstoffexpertin Elisabeth Massute.

Der Report bezieht sich auf die Menge an Impfstoffen, die bis Ende dieses Jahres an die Länder geliefert und die in diesem Zeitraum selbst bei einer Drittimpfung von Hochrisikogruppen dort nicht gebraucht werden. Laut Ärzte ohne Grenzen ist Deutschland mit etwa 81 Millionen Dosen das Land mit dem drittgrößten Überschuss nach den USA (490 Millionen) und Großbritannien (97 Millionen). In Deutschland sind bereits mindestens 65 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, vermutlich sind es deutlich mehr. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bisher die Hälfte der afrikanischen Länder, die Impfstoffdosen erhalten haben, immer noch weniger als zwei Prozent ihrer Bevölkerung vollständig geimpft.

Die Gesamtzahl der überschüssigen Impfstoffdosen ist sogar noch deutlich größer. Das Wissenschaftsanalyse-Unternehmen Airfinity aus London hat errechnet, dass die G7-Staaten und die EU-Länder bis Ende 2021 über eine Milliarde Impfstoffe mehr haben werden, als sie benötigen. Die Experten gehen zudem davon aus, dass mindestens zehn Prozent der Überschussmenge in diesem Jahr ihr Verfallsdatum erreichen werden.
Dieses Problem verschärft sich noch dadurch, dass viele Entwicklungsländer, an die Impfstoffe jetzt weitergereicht werden, darauf bestehen, dass die Vakzine noch mindestens zwei Monate haltbar sind, da sonst die rechtzeitige Verteilung nicht sichergestellt werden kann. Airfinity schätzt daher, dass 241 Millionen Impfdosen aus den reichen Ländern in diesem Jahr letztlich im Müll landen könnten.

Auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen weist darauf hin, dass die inzwischen geäußerte Weitergabebereitschaft der Industrieländer letztlich wenig bringen könnte. Deutschland plant bis Ende des Jahres zwar, 100 Millionen Impfstoffdosen abzugeben. Aber diese werden mehrheitlich erst noch gekauft und sollen dann direkt in ärmere Länder geliefert werden. Kontingente, die bereits jetzt lagern oder nicht direkt umverteilt werden können, könnten verfallen. Bisher hat Deutschland weniger als 20 Millionen Dosen tatsächlich abgegeben. Ärzte ohne Grenzen fordert daher die reichen Länder auf, die jetzt überschüssigen Dosen sofort und weit vor ihrem Ablaufdatum an ärmere Länder abzugeben. Bisher ist dies erst für Ende 2021 oder für 2022 geplant.

Die Kritik richtet sich aber nicht nur an die reichen Staaten, sondern auch an die Hersteller. Trotz des immensen Bedarfs in ärmeren Ländern liefern diese weiterhin vor allem an reiche Staaten: Bei Biontech/Pfizer sollen 78 Prozent der Lieferungen an reiche Länder gehen, bei Moderna sind es sogar 85 Prozent. Die Unternehmen haben sich bisher immer damit herauszureden versucht, dass sie die Bestellungen nach dem Eingang der Aufträge abwickeln würden. Das mag in der Anfangsphase korrekt gewesen, aber gut ein Dreivierteljahr nach Beginn der Lieferungen und angesichts der bekannten Verteilungsungerechtigkeit ist dies nicht mehr haltbar.

Bei beiden Herstellern der neuartigen mRNA-Impfstoffe zeigt es inzwischen allerdings Wirkung, dass viele Hilfsorganisationen und Prominente die Nichtweitergabe von Patenten und technologischem Know-how an die Länder des globalen Südens und ganz besonders in Afrika lautstark kritisieren. Neue Werke sollen nun offenbar nicht mehr wie bisher nur in Industrieländern entstehen. Der US-Hersteller Moderna teilte vor wenigen Tagen mit, man plane den Bau einer Impfstofffabrik auf dem afrikanischen Kontinent. Der genaue Standort der Anlage, in der bis zu 500 Millionen Dosen mRNA-Vakzine produziert und abgefüllt werden könnten, sei aber noch unklar. »Das Verfahren zur Auswahl von Land und Standort soll in Kürze beginnen«, erklärte das Unternehmen.

Konkurrent Biontech war deutlich schneller: Das deutsche Biotech-Unternehmen hatte schon im Juli eine Partnerschaft mit der südafrikanischen Biovac-Gruppe angekündigt. Ab 2022 sollen in Kapstadt Impfstoffe abgefüllt werden. Die Herstellung der sogenannten Messenger-RNA – der komplizierteste und wichtigste Schritt der Impfstoffherstellung – wird jedoch weiterhin in Europa durchgeführt. Darüber hinaus kündigte Biontech mittlerweile an, man prüfe den Aufbau »nachhaltiger Produktionsmöglichkeiten« in Ruanda und Senegal. Hergestellt werden sollen hier allerdings Malaria- und Tuberkulose-Impfstoffe mit der mRNA-Technologie. Die klinischen Studien, deren Ausgang natürlich ungewiss ist, sollen erst Ende 2022 beginnen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!