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Arbeit mit den Unsichtbaren

Maximalwirtschaftliche Menschenfeindlichkeit: Frédéric Valin hat in der Pandemie »Pflegeprotokolle« versammelt

  • Marit Hofmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Er hat »diesen Job geliebt« und musste doch hinschmeißen, mitten in der Pandemie, alleingelassen vom mittleren Management, einer Leitung, die weder die ihr anvertraute Wohngruppe sogenannter geistig Behinderter noch die Pflegenden angemessen schützen wollte.

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Frédéric Valin: Pflegeprotokolle. Verbrecher-Verlag, 240 S., br., 18 €. Erscheint am 28.10.

Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse
Dieser Artikel ist aus unserer Beilage zur Frankfurter Buchmesse, die komplett in der Printausausgabe von Dienstag, dem 19.10.21 erschienenen ist. Wer sie verpasst hat, kann sie als PDF downloaden>>

Seine eigene Geschichte hat der Autor Frédéric Valin, der seit 2020 nicht mehr als Pfleger arbeitet, vor gut einem Jahr für die »Taz« aufgeschrieben. Sie hätte auch in den nun von ihm versammelten »Pflegeprotokollen« vorkommen können, doch aus seinen Berufserfahrungen soll später ein gesondertes Buch werden. Sein Fazit damals: »Gleichzeitig beherrschen draußen irgendwelche Demonstrant*innen mit ihren gefährlichen Agenden die Schlagzeilen, während von uns Pflegenden erwartet wird, dass wir unseren Job machen und die Fresse halten … Betreuer*innen und Pflegende müssen anfangen, ihre Geschichten zu erzählen.«

Weil Valin plötzlich viel Zeit hatte, hat er andere Care-Arbeitende gebeten, genau das zu tun. Die entstandenen »Pflegeprotokolle« flankieren die Arbeitskämpfe, die in den Medien meist nur am Rande vorkommen, und erscheinen, auch wenn Voreilige die Pandemie bereits an ihrem Ende wähnen, zur rechten Zeit. Denn an der Ökonomisierung und Privatisierung des Gesundheitssystems, dem Personalmangel, den hierarchischen Strukturen in der sozialen Arbeit, der Geringschätzung von Care-Arbeitenden und Schutzbefohlenen, den Schikanen der Ämter gegenüber sozial Benachteiligten wird sich auch nach Corona nicht so schnell etwas ändern.

Im Vorwort stellt Valin fest, »dass Pflege und Soziale Arbeit der Öffentlichkeit im Grunde fremd sind«. Seine Gesprächspartner*innen »waren froh, dass ihnen mal jemand zugehört hat«. Vanessa, die sich um Obdachlose und Drogenkranke kümmert, bestätigt: »Wir arbeiten mit den Unsichtbaren der Gesellschaft … Und genau so wie diese Menschen übersehen werden, werden wir auch übersehen … Soziale Arbeit ist ja immer ein Frauenberuf gewesen …, der nicht wirklich wertgeschätzt … wird … Aber es bräuchte auch Leute, die öffentlich aus der Praxis berichten.«

Weil die Arbeitgeber*innen Whistleblower*innen und faktisch leibeigene Angestellte, die es wagen, Kritik zu üben, aussortieren, sind fast alle Gesprächspartner*innen anonymisiert. Eine Ausnahme ist Thomas de Vachroi, Einrichtungsleiter und Armutsbeauftragter beim Diakonischen Werk, der noch an das Christliche der CDU glaubt, aber an der Würdelosigkeit verzweifelt, mit der Obdachlose in Deutschland im Unterschied etwa zu den Niederlanden behandelt werden.

Besonders schön vom Leder zieht Diana Henniges, Gründerin des Vereins Moabit hilft, der eigentlich staatliche Aufgaben bei der Betreuung von Geflüchteten übernimmt. Sie macht klar, »dass wir die Leute von hinten bis vorne verarschen. Und das ist politisch so gewollt. Da gibt es eine Allianz aus den Leuten, die das wirklich wollen, und den vielen, die dazu schweigen, und dazu kommen die, die das alles umsetzen. Das betrifft kleine NGOs, die über die langjährige Mittäterschaft korrumpiert sind, aber auch Malteser, Rotes Kreuz, Caritas und so fort, die maximalwirtschaftlich handeln … Und die Dividenden haben, bei denen ich sage: Wie kann das denn sein?«

Auch Erzieher*innen kommen dankenswerterweise zu Wort, denn etwa Kitas leiden ebenfalls unter zu wenig Personal und der Vorgabe, wirtschaftlich zu arbeiten. »Kannste machen, wenn du Brot verkaufst, aber nicht, wenn man mit Kindern arbeitet«, erklärt beispielsweise der Erzieher Collin. Viele fühlten sich in der Pandemie vergessen, als »Notbetreuungen« überfüllt und Familien wie Pädagog*innen lange gänzlich ungeschützt waren, während es in den Medien hieß, die Kitas seien geschlossen.

Die wenigen der hierzulande schamlos ausgenutzten Arbeitsmigrant*innen, die sich zu äußern wagten, erzählen noch von ganz anderen Problemen, etwa mit den lieben Kolleg*innen: »Sie lästern … hinter deinem Rücken … Die Stimmung ist schlechter, wenn Deutsche arbeiten.«

Vor Drucklegung hakte Valin bei den Gesprächspartner*innen nach und ergänzte den aktuellen Stand. Oft hatte der oder die Berichtende den Job da bereits gewechselt. Die Suche nach dem idealen Arbeitsplatz im sozialen Bereich, der nicht die eigene Gesundheit gefährdet, scheint eine Odyssee. Denn es gibt ihn schlicht nicht - es sind die Strukturen, Baby. Und da macht sich Collin keine Illusionen: »Ich glaube nicht, dass die Politik das versteht und alles vergesellschaftet.«

Valin enthält sich des Kommentars, ihre Situation analysieren können die Befragten selbst. Ein Glossar steht am Ende, sodass die Erklärung von Fachbegriffen nicht den lebendigen Redefluss unterbricht. »Interessanterweise waren fast alle Protagonist*innen hinterher unzufrieden mit den Texten«, verrät Valin. »Dieses Unperfekte des Ausdrucks durchdringt das ganze Buch: Es ist etwas, das auch ein jahre- bis jahrzehntelanges Schweigen illustriert.« Dabei ist die direkte gesprochene Sprache eine Stärke. Die Drastik ist den Skandalen - den unnötigen, aber lukrativen OPs, dem Ruhigstellen »störender« Patient*innen - schlicht angemessen, die sich tagtäglich vor den Augen hilfloser Helfer*innen abspielen. Um es mit Pfleger Klaus zu sagen: »Da kriegst du das Kotzen.«

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