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Wenn doch alles nur eine Ordnung hätte
Peter Stamms neuer Liebesroman erzählt von der Suche in der Vergangenheit, aus der eine neue Zukunft entsteht
Was bleibt von einem Leben? Einige Fotos und Briefe? Ein paar Erinnerungen von Hinterbliebenen? Der Ich-Erzähler in Peter Stamms neuem Buch »Archiv der Gefühle«, einem dichten Bewusstseinsstrom, weiß sehr genau um die Vergänglichkeit. Bislang bestand sein Mittel gegen das Vergessen und Verdämmern im unentwegten Sammeln. Als Archivar war er Verwalter und Beschützer der Vergangenheit, bis er schließlich entlassen wurde.
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Peter Stamm: Archiv der Gefühle. S. Fischer, 192 S., geb., 22 €.
Doch damit endete seine Tätigkeit keineswegs. Prompt nahm er die Akten zu sich nach Hause, wo er nun als eremitischer Sonderling die Tage zubringt. Wenn er nicht spazieren geht, sichtet er Dokumente, entflieht dem leeren Heute in ein zumindest teilweise heiteres Gestern.
Die Mappen und Ordner versprechen ihm Halt. Dort befindet sich alles an seinem Platz, »in einer ewigen Gegenwart, in der nichts verschwindet, nur alles ganz allmählich verblasst, verstaubt, sich auflöst«. Darüber hinaus wird ebenso eine Zukunft denkbar. Sie entspringt der Idee, wonach aus der Strukturierung selbst etwas Neues entstehen kann. Unangenehmes - von der Massentierhaltung bis zum Stalinismus - lässt sich entfernen, eine Liebe, die nicht richtig blühen konnte, kann sich gedanklich doch noch entfalten, alles basierend auf Materialien, die sich auf ungeahnte Weise verknüpfen.
Allen übrigen Menschen fremd geworden, sinnt der Einzelgänger in »Das Archiv der Gefühle« im realen Dasein seiner Jugendliebe Franziska nach. Doch was wiegen all die Artikel über ihre Gesangskarriere schon gegenüber der bis dato kaum greifbaren Chance, ihr selbst nah sein zu können? Erst spät werden sich beide wiedersehen. Und erst spät wird der Solitär sein Archiv auflösen, um möglicherweise Raum für Alternativen zu schaffen.
Obwohl dieser Roman von einem Eigenbrötler erzählt, verhandelt er grundsätzliche Fragen der Existenz. Wie viel Zeit verbringen wir mit unserer Vergangenheit? Wie gehen wir mit den Unwägbarkeiten, Unsicherheiten, ja, dem Chaos des Lebens um?
Stamm gibt darauf keine banalen Antworten. Weder verdammt er das Historische, noch feiert er das Progressive. Beides bedingt einander. Hätten Franziska und der Erzähler keine gemeinsame Kindheit gehabt, wären sie sich vielleicht nie begegnet. Das Archiv ist das Scharnierstück. Ihm widmet der 1963 geborene Schweizer Stamm eine ganze, im Buch spielerisch verstreute Philosophie. Sie macht deutlich, dass die Aufbewahrung eine Art Bewegung darstellt, im Rahmen derer sich das Ich permanent neu zur Welt positionieren muss.
Zweifelsohne haben wir es, wie so oft bei den Romanen des Schweizer Autors, mit einem Text über Identitätsfindung zu tun. Eingebettet ist dieser Prozess in eine berührende Sprache, die klar und lakonisch ausfällt, die tief in die Gedanken eines Suchenden vordringt. Sie deutet an, ohne alles auszumalen, lässt Leerstellen zu und verhilft gerade dadurch der rätselhaften Annäherung zweier höchst unterschiedlicher Charaktere zu einer ungemeinen Dynamik.
Manchmal knistert es, häufig verbleibt man als Leser*in aber in derselben Stille, in der auch das Ich und das Du sich bewegen, mit all den ungesagten Wünschen und Hoffnungen. Andächtig mutet die Geschichte an, filigran und liebevoll in jeder Satzkomposition, bis zum letzten Augenblick kostbar.
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