Das halb Richtige im ganz Falschen

Weil sie Teil der Gesellschaft ist, kommt es auch in der linken Szene zu sexuellen Übergriffen, von Belästigungen über Übergriffe bis zu Vergewaltigungen. Über den Umgang mit diesem Fakt wird in der Linken bis heute hart gestritten

  • Marco Kammholz
  • Lesedauer: 8 Min.

Die linke Szene diskutiert regelmäßig über sexuelle Übergriffe. Das tut sie seit mehr als fünf Jahrzehnten und hinterlässt dabei vor allem in den vergangenen 30 Jahren immer häufiger einen Scherbenhaufen in den eigenen Reihen. Anlass zu neueren Debatten geben gleich mehrere öffentlich thematisierte Vorfälle im Zusammenhang mit sexuellen Grenzverletzungen: Vor zwei Jahren kam es bei einem Konzert im Leipziger Kulturzentrum Conne Island zu einer Vergewaltigung, Anfang 2020 tauchten Nacktaufnahmen von Besucherinnen des »Fusion Festivals« auf Pornoplattformen auf, und fast zeitgleich machte der NDR öffentlich, dass bereits in den Jahren zuvor ähnliche Aufnahmen aus den Duschen des linksalternativen Festivals »Monis Rache« auf Pornowebseiten veröffentlicht wurden. Aktuell sorgt der Vorwurf der sexuellen Nötigung einer Aktivistin durch den ehemaligen Sprecher der Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen für Aufruhr.

Die Ereignisse unterscheiden sich, zeigen aber: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung finden auch in linksalternativen Zusammenhängen statt. Das mag kaum verwundern, berichtet in Deutschland schließlich jede vierte Frau davon, im Laufe ihres Lebens körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt zu haben, vor allem durch Beziehungspartner, ganz abgesehen von den alltäglichen Belästigungen und Herabwürdigungen, die Männer gegen Frauen ausüben. Ob sexuelle Gewalt in der Linken allerdings das Ausmaß hat, das in den aufgewühlten Diskussionen über die (eigenen) linken Räume und Beziehungen immer wieder gezeichnet wird, darf dennoch bezweifelt werden. Diese aufgeregten innerlinken Auseinandersetzungen sind häufig von der Neigung begleitet, das geschärfte gesellschaftliche Problembewusstsein gegenüber sexueller Gewalt, die Sensibilisierung innerhalb heterosexueller Partnerschaften und die verstärkte soziale Ächtung des sexuellen Missbrauchs zu unterschätzen.

In linken und feministischen Zusammenhängen besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass das Geschlechterverhältnis latent und konkret von Gewalt bestimmt ist. Auch die linksradikale Gruppe fels (»Für eine linke Strömung«) diskutiert bereits Anfang der 2000er Jahre im Bewegungsblatt »arranca!« die »bewegungslose […] Vergewaltigungsdebatte in der Linken« und hält fest: Es seien vor allem die feministischen Interventionen der 70er Jahre gewesen, die das Recht auf körperliche Selbstbestimmung der Frau in den Mittelpunkt rückten.

Notwendige Rechtskritik

Die Forderung nach einem Ende patriarchaler Herrschaft umfasste zu diesem Zeitpunkt weitaus zwangsläufiger eine Kritik des Staates und des Strafrechts. Schließlich brachten der rigide Paragraf 218 zum Schwangerschaftsabbruch und der mehr als nur lasche strafrechtliche Umgang mit Vergewaltigungen deutlich zum Ausdruck, wie sehr Frauenkörper objektiviert und kontrolliert werden. Die bürgerliche Rechtsprechung - so die treffende feministische Analyse - proklamiere eine prinzipielle Gleichheit, über die sich eine patriarchal bestimmte Ordnung durchsetze, die Vergewaltigung zum Kavaliersdelikt und die heterosexuelle Ehe zum rechtsfreien Raum erkläre. Somit leistete der feministische Einspruch für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen immer auch eine Rechtskritik, die darauf abzielte, sexuelle Gewalt der Sphäre der Privatheit und einer patriarchal definierten Logik der Objektivität zu entreißen.

Das Konzept Definitionsmacht

Für eine solche feministische Perspektive auf den Begriff und die Analyse von Gewalt braucht es zwingend den Bezug zum Subjekt. Diese Überzeugung von dem Vorrang des subjektiven Wissens um das erlebte Unrecht ist entstanden vor dem Hintergrund der Unfähigkeit des bürgerlichen Rechts, konsequent gegen Vergewaltigungen vorzugehen. Es hat in der Folge Eingang gefunden in szeneeigene linke Verfahren zum Umgang mit Vorwürfen sexueller Gewalt, die abseits des Rechtsstaates stattfinden: Als Konzept der Definitionsmacht (DefMa), das seit den 80er Jahren als außergerichtlicher Umgang mit Vorwürfen sexueller Gewalt und mit sexuellen Gewalttaten in linken Räumen und Zusammenhängen praktiziert wird.

Definitionsmacht fußt auf dem Grundsatz, dass nur die von Gewalt betroffene und den Gewaltvorwurf formulierende Person die Tat definieren kann und darf. Diesen Schilderungen und Eindrücken gegenüber sind alle anderen Beteiligten zur Parteilichkeit verpflichtet. Soll heißen: Was die oder der Betroffene als Grenzverletzung benennt, muss als solche akzeptiert werden und darf nicht infrage gestellt werden. Dieser Ansatz entspricht gängigen Rechtsauffassungen nicht, geht aber wiederum auf den feministischen Standpunkt zurück, dass es in einer patriarchalen Gesellschaftsordnung die Männer sind, denen die Macht zusteht, Objektivität zu definieren - mitsamt der Konsequenz, es Frauen abzuerkennen, dass sie über die sexuelle Gewalt, die ihnen angetan wurde, wahrheitsgemäß Auskunft geben können. Die Gerichtsprozesse im Falle von Vergewaltigungen bezeugen bis heute, dass sexuelle Gewalt als juristischer Gegenstand nur unzureichend erfasst werden kann. Für die Betroffenen werden die Verhandlungen zudem zu einer massiven Belastung und Infragestellung ihrer Person.

Die feministische Gruppe e*vibes beschäftigt sich seit einigen Jahren - teils kritisch, teils affirmativ - mit linken Schutzkonzepten gegenüber sexuellen Übergriffen. Sie hält im Hinblick auf Definitionsmacht fest, »dass die Tat-Definition der Betroffenen allgemein anerkannt wird. Dies soll erreicht werden durch parteiliche Verbündete, die diese Definition vertreten.« Das ursprüngliche Definitionsmachtkonzept sieht dabei eindeutig vor, dass nur die betroffene Person auch über alle Konsequenzen bestimmen darf, die aus ihrer Wahrnehmung der Geschehnisse hervorgehen. Diese Praxis hat in der linken Szene für mutmaßlich Gewalt ausübende Personen und die Menschen in ihrem Nahfeld nicht selten schwerwiegende Folgen gehabt: Ausschluss aus politischen Strukturen, Raum- und Sprechverbote, Rausschmiss aus Wohngemeinschaften, Kündigung von Arbeitsplätzen und in einzelnen Fällen körperliche Angriffe.

In der Tat macht präventiver Opferschutz, der im Falle schwerwiegender Delikte darauf zielt, weitere Gewalt und eine Überforderung zu verhindern, es häufig notwendig, den oder die Täter aus dem Sozialraum der Betroffenen zu entfernen. Nicht zuletzt, weil Gewalt ausübende Personen bagatellisierende und verzerrende Erklärungsweisen und Verhaltensmuster aufrechterhalten können, die explizit oder implizit mit der Leugnung von Wirkung und Verantwortung einhergehen.

»DefMa«-Kritik und Alternativen

Allerdings birgt ein DefMa-Konzept, das sicherheitsspendend und ermächtigend gegenüber Betroffenen wirken will, aber Prinzipien der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Verteidigung gegenüber Vorwürfen außer Kraft setzt, das Risiko des Kontrollverlusts der sozialen und politischen Zusammenhänge über die Vorgänge. Folglich haben solche Prozesse immer wieder individuelle und kollektive Entgrenzungs- und Zersetzungsprozesse innerhalb linker Gruppen ausgelöst, die mit dem eigentlichen Ziel der Stabilisierung möglicher Betroffener und der Aufarbeitung mit dem Beschuldigten wenig zu tun hatten.

In diesem Sinne kritisierte die Gruppe les madeleines das Konzept der Definitionsmacht 2013 als antifeministisch, weil es reale Vergewaltigungen unbesprechbar mache, sexuelle Gewalt begrifflich entleere, Frauen auf ihre Emotionalität reduziere und nicht zuletzt Bestrafungslust und »Täterjagd« provoziere. Und auch in der Praxis sei das Vorgehen vollkommen untauglich, weil »unter der Ägide der Definitionsmacht so ununterscheidbar verschmolzen worden ist, dass nichts davon mehr funktioniert: politische Intervention, therapeutischer Eingriff und Unterstützung im FreundInnenkreis«.

Gegenwärtige Konzepte zum Umgang mit Übergriffen innerhalb der Linken haben die Vorstellungen von Definitionsmacht sowohl verschärft als auch entschärft. Das »Zustimmungskonzept« etwa verlangt zur Verhinderung möglicher Grenzverletzungen die ausdrückliche Zustimmung und Einwilligung aller Beteiligten zu jeder sexuellen oder zärtlichen Handlung und legt daher eine Sexualität nahe, in der nichts mehr passiert. Die in einigen linken Subkulturen und bestimmten universitären Zirkeln zur Mode gewordenen Awareness- und Schutzraumkonzepte wiederum weiten die Ansätze der Definitionsmacht auf jedwede Diskriminierungsformen und Sprachhandlungen aus und verwenden somit ein autoritäres Mittel im Namen diskriminierungsfreier Räume.

Zur Vermeidung dieses Widerspruchs greifen linke Aktivist*innen im deutschsprachigen Raum nun auch vermehrt auf Strategien der US-amerikanischen, schwarzen und LGBT-Bewegung zurück. Konzepte wie »Transformative Gerechtigkeit« und »Gemeinschaftsverantwortung« setzen stärker auf Reflexion statt auf Ausschluss und versuchen, Strukturen und Umfelder stärker in die Arbeit zum Thema Gewalt und Grenzverletzungen einzubeziehen: »Individuelle Gerechtigkeit und kollektive Befreiung«, so das Transformative Justice Kollektiv Berlin, »sind gleichermaßen wichtig, sich wechselseitig unterstützend und fundamental miteinander verwoben, so dass die Erlangung der einen ohne die andere unmöglich ist«. Diese Ansätze versuchen sich in Alternativen zu Bestrafung und polizeiähnlichem Vorgehen und beanspruchen einen Prozess der kollektiven Verantwortungsübernahme. Allerdings laufen sie Gefahr, im Falle sexueller Gewalttaten die Person des Täters und die Konsequenzen, die sich aus seinem Verhalten für ihn ergeben müssen, aus dem Blick zu verlieren.

Überforderung linker Zusammenhänge

Der Umgang linker Bewegungen mit sexueller Gewalt entwickelte sich ursprünglich daran, dass dieses Phänomen zunächst einmal überhaupt benannt und zugleich dessen bürgerlich-patriarchale Rechtfertigung analysiert und zurückgewiesen wurde. Neuere Ansätze setzen diese Diskussion zwar fort, indem sie Schutz, Selbstverteidigung und Wiedergutmachung mit Kritik an Strafrecht, Gefängnis und Polizei verknüpfen. Aber in der politischen Praxis scheitern sie in aller Regel doppelt: Einerseits misslingt es häufig weiterhin, einen angemessenen Umgang mit und ein adäquates Sprachrepertoire gegenüber Beschuldigten zu entwickeln, andererseits erfolgen unbeholfene Versuche, erwiesenermaßen gewalttätige Menschen ohne ausreichende Tateinsicht zur Wiedergutmachung und Reflexion zu bewegen.

Somit überträgt sich nicht nur die Binnendynamik gewalttätiger Beziehungen in ganze politische Zusammenhänge und überfordert diese. Vielmehr zeigt sich hier, wie unproduktiv die linke Szene mit dem Dilemma der Verhandlungsmoral umgeht: einer Sexualmoral, die auf dem Einverständnis gleichberechtigt Handelnder beruht, die aber zugleich in patriarchalen Verhältnissen umgesetzt werden soll. Diese Moral ist, so der Sexualtherapeut Ulrich Clement, sowohl potenziell kontrollierend als auch potenziell kreativ - konfrontiert mit Vorwürfen sexueller Gewalt ist die Linke heute oft keines von beidem oder eines zu sehr.

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