Die vielen Gründe der Flucht

Das 64. Leipziger Animations- und Dokumentarfilmfestival startet am Montag. Das bringt inhaltlich wenig Neues, aber besticht mit formalem Einfallsreichtum

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 6 Min.

Das 64. Dok Leipzig zeigt 162 Animations- und Dokumentarfilme, von denen verblüffend viele nicht nur auf der Suche nach neuen Formen sind, sondern auch fündig werden. Die Themen bleiben dagegen im Wesentlichen die alten, da die Corona-Filme wohl noch nicht fertig sind (hier und da sind die Masken aber schon zu sehen).

Ein wiederkehrendes Thema ist die Vergangenheit, die nicht vergehen will. Nicht die Shoah selbst, sondern dem Umgang mit ihr ist eine Retrospektive gewidmet, die erfreulich viele DDR-Filme wiederaufführt, so »Aktion J« (1961) von Walter Heynowski über den Fall Hans Globke und »Die Stürmer« von Dagobert Loewenberg und dem unterschätzten Brechtianer Peter Voigt über die westdeutsche Nahost-Berichterstattung. Schade nur, dass die Reihe, die mit der Nazipropaganda »Theresienstadt« (auch: »Der Führer schenkt den Juden eine Stadt«, 1945) eröffnet, nicht auch Günter Peter Strascheks Dokumentation »Filmemigration aus Nazideutschland« (1975) einbezieht, an deren Anfang ebendieser Nazifilm steht, dessen zum Mitmachen gezwungenes jüdisches Team mit wenigen Ausnahmen ermordet worden ist.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Beispielhaft für die intelligente Verwendung neuer Formen ist der israelische Regisseur Avi Mograbi, der in Leipzig mit einer Hommage gefeiert wird. Aus der Not, dass sein Zeuge nicht wiedererkennbar sein will, macht er in »Z32« (2008) eine Tugend. Er verbirgt mit verschiedenen Mitteln das Gesicht eines früheren Soldaten, der davon erzählt, wie heiß seine Truppe darauf gewesen sei, auf einer »Rachemission« ein paar Palästinenser abzuknallen, und dass sie sich dabei wie Chuck Norris vorkamen. Ja, Mograbi singt sogar ein selbst geschriebenes Lied darüber: »Verbirg nur dein Gesicht, das regt uns dazu an, es uns vorzustellen.« Er singt auch ein Lied davon, seine Frau habe ihm davon abgeraten, sich mit einem Mörder einzulassen. Und so gerät der Film nach und nach zu einem finsteren Musical. Das mutet salopp, vielleicht zynisch an, nimmt den Berichten des Soldaten aber nichts von ihrer Grausamkeit, im Gegenteil.

Die neue Form des Dokumentarfilms kann so subjektiv sein wie bei Mograbi, sie kann aber auch, in heute eher seltenen Fällen, streng objektiv werden. Beispiele für die beiden Extreme sind »Kopf Faust Fahne« von Bettina Kuntzsch und »Handbuch« von Pavel Mozhar. Kuntzschs Film ist eine vergnügliche, eigenwillig und einfallsreich gestaltete Revue rund um das wuchtige Thälmann-Denkmal (1986) in Berlin-Prenzlauer Berg. Mozhar dagegen gibt zwar am Anfang und am Ende persönliche Statements ab. Ansonsten handelt »Handbuch« im spartanischen Stil des Lehrfilms von Methoden polizeilicher Misshandlung in Belarus. Zitate werden kühl eingesprochen, schematische Grafiken eingeblendet, Folterungen mit Simulationen nachgestellt. Die belarussische Polizei könnte den Film zur Schulung verwenden.

Die ideale Mitte zwischen den Stil-Extremen hält ein alter Bekannter in Leipzig, Paweł Łoziński, mit seinem erhellenden und bewegenden »Balkonfilm«. Streng bleibt er stets bei derselben Einstellung - einem Blick von seinem Balkon -, aber die Begegnungen, die sich mit Passantinnen und Passanten ergeben, sind rein zufällig und recht privat. Am häufigsten fällt in den Gesprächen der Satz: »Ich suche nach meinem Ort.« Der ebenfalls auf dem Festival vertretene Regisseur Jean-Marie Straub sagte einmal, was ihm Lust mache weiterzuleben und weiterzufilmen, seien die Leute und alle Dinge, die er von seinem Fenster aus sehe. (»Les Inrockuptibles«, 11.3.2015)

Geradezu ein Stil-Exerzitium ist Rebecca Zehrs Porträt »A Sound of My Own«, das in Tönen und Bildern das Leben von Marja reflektiert, der Tochter jenes Mannes, der mit seiner Band Embryo die Weltmusik nach Westdeutschland brachte: Christian Burchard (1946-2018). Nicht ohne das Esoterische zu streifen, versetzt der Film in eine Art Schweben, aber erheitert auch mit einigen sehr komischen Szenen, etwa einer, in der die Tochter mit einer Posaune eine Schar Kühe anlockt. Oder einer andern, in der ein Konzertveranstalter anruft und Embryo buchen will. Burchard, die ihrem Vater als Bandleaderin nachgefolgt ist, und ein Begleitmusiker fragen sich flüsternd und aufgeregt, was sie dafür wohl verlangen können, und verlangen dann lächerlich wenig, ja sogar weniger als das, was sie sich erst vorgenommen haben. Die Zuschauerinnen und Zuschauer verstehen: Aus diesen Menschen haben nur Künstler werden können.

In einer Reihe über Animation und Musique concrète sind einige ältere Werke zu bestaunen, die in der Behandlung von Klang und Bild wesentlich weitergehen als Zehr. Etwa kombiniert »The Quiet Zone« (2015) von David Bryant und Karl Lemieux teilweise zersetzten Analogfilm mit Drone-Musik, um Erfahrungen »elektrosensibler« Personen zu verdeutlichen. Das durchweg berauschende, auch beunruhigende Ergebnis grenzt gleich in mehrfacher Hinsicht an die Experimente von Tony Conrad an.

Die Sensiblen aus Bryants und Lamieux’ Film sind Flüchtlinge aus einer Zivilisation, die selbst die Atmosphäre technisiert. Es gibt simplere Gründe zu fliehen als ihre schwer fassbaren. Davon sprechen auch dieses Jahr wieder viele Filme. »Die Odyssee« von Florence Miailhe, eine inspirierte Öl-auf-Glas-Animation, will die üblen Tatsachen der Flucht - ob vor ethnischer Säuberung, Krieg oder Wassermangel - Kindern nahebringen. Erspart wird den jungen Zuschauern wenig, gerade weil Miailhe die Geschichte als düsteres Märchen erzählt; bei diesem Thema wäre jede Seichtheit Verrat.

Unter allen Filmen, die dieses Jahr in Leipzig zu sehen sein werden, ist »Nasim« (Ole Jacobs und Arne Büttner) derjenige, der unbedingt hat gedreht werden müssen. Er zeigt Flüchtlinge im Lager Moria auf Lesbos im Sommer 2020 von der Corona-Quarantäne bis zum Brand im September, im Stich gelassen von den Behörden, zermürbt vom monatelangen Stillstand, aufgemuntert von ein paar hereingeschneiten Humanisten, bedrängt von aufgebrachten Griechen, von der Polizei mit Tränengas beschossen und am Ende rebellisch zu einer Demonstration vereint, an der auch Nasim, die Protagonistin, mittut.

Nasim gehörte zu der afghanischen Minderheit im Iran und ist von dort geflohen. Ihr Mann, ein Analphabet, im Krieg verwundet, fügt sich mürrisch in seine Untätigkeit, auch seine Entmachtung; Nasim erwägt, sich von ihm scheiden zu lassen. Der ältere Sohn, ein Halbstarker wie aus einem Pasolini-Film, will aus dem Lager ausbrechen, der jüngere scheint Boxer werden zu wollen wie sein Papa. Nasim, eine kluge Frau, wird manchmal von den Ereignissen überwältigt, aber trägt doch an guten Tagen ein Lächeln auf den Lippen, das merkwürdigerweise an Clark Gable erinnert. Sie ist durchaus der Star in diesem mit ruhiger, sicherer Hand fotografierten Film, den gesehen haben muss, wer wissen will, wo die Legende von Europa unterging.

Der Film von Jacobs und Büttner ist derart nah am Geschehen, dass wer ihn sieht, nichts mehr ersehnt, als ihm und diesem Lager bald zu entkommen. Das ist vielleicht ein ungewöhnliches Lob für einen Dokumentarfilm, doch in diesem Fall das höchste.

Das 64. Internationale Festival für Dokumentar- und Animationsfilm findet vom 25. bis 31.Oktober in Leipzig statt.

Im Anschluss an die Festivalwoche werden die Filme vom 1. bis 14. November als Video-on-Demand präsentiert.

Weitere Informationen unter: www.dok-leipzig.de

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