• Politik
  • Zehn Jahre NSU-Selbstenttarnung

Unterstützer und Klangverstärker

Antifaschistische Prozessbeobachtung war nicht nur im Fall NSU wichtige, aber harte Arbeit. Aktuell kommt sie an ihre Grenzen

  • Friedrich Burschel
  • Lesedauer: 8 Min.

»Warum tut man sich das an?« fragten viele, die mitbekamen, dass Leute den NSU-Prozess von Anfang bis Ende begleitet und beobachtet, oder eben, wie man das seit einiger Zeit auch nennt: gemonitort hatten. Der Prozess dauerte unglaubliche 438 Tage, zog sich über fünf Jahre, von Mai 2013 bis Juli 2018, hin. Inbegriffen viele Wochen und Monate im Schneckentempo, etwa als wegen der »Belastung« der Hauptangeklagten nur zwei statt drei Tage Verhandlung pro Woche möglich waren oder während der großen Schlacht der Gutachter. Allein Letzteres - der Schlagabtausch zwischen dem vom Gericht bestellten Forensiker und den von der Verteidigung ins Feld geführten Gegengutachtern - dauerte fast ein Dreivierteljahr. Dann die Tausenden von Stunden im Zug nach München und zurück. Und das bedrückende Expertenwissen, das man anhäuft und das auf Hirn und Seele lastet. Schließlich die Wut und die Fassungslosigkeit angesichts des unwürdigen Urteils am 11. Juli 2018. Warum tut man sich das an?

»Wir geben uns nicht der Illusion hin, dass die Justiz die Lösung unserer Probleme ist. Im Gegenteil: Sie war stets in den Händen der Eliten ein Herrschaftsinstrument.« So brachte es der Chef des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), Wolfgang Kaleck, kürzlich bei einem Empfang der Rosa Luxemburg Stiftung in London auf den Punkt. Aber er fügte eben auch hinzu: »Dennoch oder gerade deswegen müssen politische Kämpfe auch in juristischen Foren und Diskursen ausgefochten werden.« Deshalb die Rückschau auf das damals unabsehbare Projekt einer kontinuierlichen Prozessbeobachtung: Was wurde damit erreicht, und wo sind auch Grenzen vor allem der Verhältnismäßigkeit sichtbar geworden - und verursachen bisweilen Zweifel.

Rechtsterrorprozesse – eine Auswahl
  • Prozess gegen die Nazitruppe »Revolution Chemnitz« nach rassistischen Hetzjagden in Chemnitz im Herbst 2018 vor dem OLG in Dresden: Endete im März 2020 mit mehrjährigen Haftstrafen.
  • Drei Runden Prozess gegen die »Gruppe Freital« vor dem OLG Dresden: Endeten 2021 mit erstaunlichen Urteilen bis zu zehn Jahren, aber auch Bewährungsstrafen.
  • Nordkreuz-Verfahren gegen den SEK-Beamten Marko G. vor dem OLG Schwerin: Endete im Dezember 2019 mit einer happigen Bewährungsstrafe.
  • Prozess wegen des Mordes an Walter Lübcke vor dem OLG Frankfurt von Juni 2020 bis Januar 2021: Der Täter wurde zur Höchststrafe verurteilt, sein Unterstützer jedoch freigesprochen.
  • Prozess gegen Bundeswehr-Oberleutnant Franco A. vor dem OLG Frankfurt: Läuft noch.
  • Halle-Prozess in Magdeburg vor einer Strafkammer des OLG Naumburg: Endete im Dezember 2020 mit Höchststrafe.
  • Großverfahren vor dem OLG Stuttgart gegen die »Gruppe S« mit 12 Angeklagten: Seit April 2021.
  • Revisionsverfahren zur Gewalttat von Ballstädt vor dem Landesgericht in Erfurt: Endete mit höchst fragwürdigen Bewährungsstrafen.
  • »Fretterode«-Verfahren gegen den Sohn des Nazi-Führers Thorsten Heise und einen mutmaßlichen Mittäter vor dem LG Mühlhausen (Thüringen) wegen einer Gewalttat gegen zwei Journalisten: Läuft noch.
  • Prozess im medial völlig ausgeblendeten Fall eines Kölner CDU-Kommunalpolitikers, der in der Silvesternacht auf 2020 mutmaßlich aus rassistischen Motiven einen jungen Mann niederschoss: Steht noch aus.
  • Verfahren vor dem Landesgericht Berlin gegen André M., der Hundert Drohbriefe unter dem Namen »Nationalsozialistische Offensive« vor allem an prominente Frauen und Dutzende Bombendrohungen gegen öffentliche Einrichtungen gerichtet hatte: Im Dezember 2020 erging das Urteil zu vier Jahren und anschließendem Maßregelvollzug. 
  • Prozess gegen die rechtsterroristische Reichsbürgerin Susanne G. vor dem Oberlandesgericht München: Endete Ende Juli 2021 mit einem Schuldspruch und 6 Jahren Haft … fcb

Klangverstärker für die Betroffenen

Am Anfang standen antifaschistische und antirassistische Impulse, das Agieren von Betroffenen des NSU-Terrors, ihre Interventionen vor Gericht zu dokumentieren, Unterstützung zu leisten, wo das gewünscht war, und auch als Klangverstärker dessen zu wirken, was als »Opfer-« oder »Betroffenenperspektive« bezeichnet werden kann.

Nur im Gerichtssaal hatten die Geschädigten, wie sie im Juristendeutsch heißen, Möglichkeiten zu intervenieren, über ihre Anwält*innen Anträge zu stellen und auch selbst Erklärungen zur Sache abzugeben. In den bisher 13 Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen auf Bundes- und Länderebene ist ein solches Recht nicht vorgesehen. Mit diesen Rechten hatten es die Betroffenen im NSU-Verfahren jedoch nicht leicht, ihnen standen ein nur mäßig zugewandtes Gericht und bis zur Geschmacklosigkeit penetrante andere Prozessbeteiligte, etwa Verteidigung und Bundesanwaltschaft (BAW), gegenüber. Und doch hat der schiere Umfang dieser Nebenklage den Prozess entscheidend mitgeprägt und eine beachtliche Außenwirkung und Wahrnehmung der Betroffenen erreicht: 93 Betroffene waren mit bis zu 60 Anwält*innen im Gerichtssaal in München präsent, deren kleinerer, aber potenterer Teil geradezu Übermenschliches geleistet hat. Entlang dem Wirken, den Anträgen, Stellungnahmen und Plädoyers eines guten Dutzends dieser Nebenklagevertreter*innen kann die ganze Geschichte des NSU-Komplexes und seiner unterbliebenen Aufklärung erzählt werden.

Eingriff in den öffentlichen Diskurs

Und zusammen mit unabhängigen Beobachter*innen und engagierten journalistischen und Antifa-Rechercheur*innen konnte es so gelingen, auch in den öffentlichen Diskurs einzugreifen und durch hartnäckiges Wiederholen und Insistieren bestimmte Narrative, wie das der Anklagebehörde, in Frage zu stellen. Zum Entsetzen vieler Beobachter*innen blieb die BAW nämlich bis zum Schluss und trotz anderer Ergebnisse der Beweisaufnahme bei ihrer Version aus der Anklageschrift, die von einer isolierten und gar von der eigenen Szene abgekapselten Drei-Personen-Zelle, dem notorischen »Trio«, sprach. Einzig den Angeklagten André Eminger schätzte die BAW anders ein als der erkennende Senat am OLG München unter dem Vorsitz von Richter Manfred Götzl und forderte eine hohe Gefängnisstrafe für den bekennenden »Nationalsozialisten mit Haut und Haaren« (so sein Verteidiger über ihn). Dies ist übrigens neben winzigen anderen Pinselstrichen das einzige, was den 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs aus den fünf Revisionsanträgen interessierte und nun zu einer mündlichen Verhandlung Anfang Dezember in Karlsruhe führen wird.

Im Urteil des Münchener Staatsschutzsenats, das in vier schrecklichen Stunden am 11. Juli 2018 heruntergenuschelt wurde, kam das Leid der Betroffenen, also der Angehörigen der zehn Ermordeten und der Dutzenden bei Bombenanschlägen und Überfällen Verletzten und Traumatisierten, ebenso wenig zur Sprache wie das weitverzweigte Unterstützungsnetzwerk des NSU, das sich in den etwa 375 Tagen Beweisaufnahme deutlich herausgeschält hatte. Ganz zu schweigen von der Verstrickung und vielfachen Mitverantwortung der involvierten Inlandsgeheimdienste an Mord, anderen Verbrechen und der massiven Obstruktion der Aufklärung. Diese kaltschnäuzige »Meisterleistung« der Urteilsverkündung sorgte wegen der milden Beurteilung des Angeklagten Eminger in der bundesdeutschen Naziszene und schon im Gerichtssaal für Jubel und Applaus. Und der Götzl-Senat ließ sich volle 93 Wochen für die schriftliche Ausarbeitung Zeit, bis April 2020 - genau so viel, wie er aufgrund der enormen Länge des Prozesses zur Verfügung hatte. Insbesondere die Nebenklage und unabhängige Beobachter*innen empfanden dieses Ende des mit so großen Erwartung aufgeladenen NSU-Verfahrens als ein Desaster nach Jahren intensiver Beweisaufnahme und Verhandlung. Warum, so fragten sich viele selbst, habe ich mir, haben wir uns das angetan? Waren unsere Erwartungen an den Rechtsstaat und so etwas wie Gerechtigkeit naiv gewesen? Selbst einige Berichterstatter*innen aus den »Leit- und Qualitätsmedien« äußerten Kritik an diesem Urteil und dem Versuch, die Opfer der unter den Augen der Inlandsgeheimdienste begangenen monströsen Verbrechen der deutschen Nazis und ihrer Unterstützer*innen in den Skat zu drücken. Aber natürlich gab es auch Stimmen, die den gestrengen Vorsitzenden in Justitias bedeckten Himmel lobten.

Immerhin hat sich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Einschätzung des so genannten Verfassungsschutzes einiges geändert. Spätestens seit Hans-Georg Maaßen, der nach dem Auffliegen des NSU am 4. November 2011 als Chef des Bundesamtes installiert wurde, sich als strammer Rechtsaußen ohne die geringsten Berührungsängste mit AfD und Verschwörungsideologien herausgestellt hat, ist vielen noch klarer, dass die Behörde als politisches Instrument der Regierung vom Kopf her stinkt. Trotzdem sind die insgesamt 17 Behörden zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Gefahr gewesen, trotz der haarsträubenden Erkenntnisse, die allein der NSU-Skandal zutage gefördert hat. Im Gegenteil, die Dienste stehen heute besser da als zuvor: ungeschoren, mit mehr Geld, mehr Personal und mehr Kompetenzen.

Rechte Gewalt nach dem NSU

Schon während des laufenden Münchener Prozesses explodierte rassistische Gewalt im Zusammenhang mit der Ankunft Zehntausender Geflüchteter, Pegida hatte seine »große Zeit« als neue rechte Bürgerbewegung, und der Aufstieg der völkisch-nationalistischen AfD begann. Seit dem Urteil im NSU-Prozess ist rechte Gewalt und Bedrohung massiv sichtbar und rechte Terroranschläge erschüttern das Land. Kaum einen Monat nach dem Spruch von München erhielt die Nebenklagevertreterin, Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, von Nazis Morddrohungen. In den Faxen, die mit »NSU 2.0« unterschrieben waren, waren nicht-öffentliche Informationen zu Başay-Yıldız› Privatleben enthalten. Nach einer Anzeige bei der Polizei stellte der Staatsschutz fest, dass diese Informationen von der Polizei selber stammten. Am 1. Juni 2019 wurde der Regierungspräsident Walter Lübcke, ein CDU-Mitglied, in Kassel ermordet. Unterdessen stehen weitere Städtenamen auf der langen Liste: die verheerenden Anschläge von Halle und Hanau, die Festnahme der rechtsterroristischen »Gruppe S« und das Auffliegen weiterer wie etwa »Nordkreuz«, in denen auch uniformierte Angehörige der bewaffneten Organe des Staates, Polizist*innen und Bundeswehrangehörige, den Tag X der gewaltvollen Machtübernahme vorbereiten. Der Mediendienst Integration weist in einer Studie im Oktober auf fast 370 rechte Verdachtsfälle bei Landes- und Bundesbehörden hin, sowie auf mehr als 1000 bei der Bundeswehr.

Mit den Erfahrungen, die antifaschistische Gruppen wie NSU-Watch im Laufe der Prozessbeobachtung in München gesammelt haben, ist eine enorme Professionalisierung einhergegangen. Das »Einmischen und Aufklären« diente als Vorbild, sogar auf internationaler Ebene etwa für Golden-Dawn-Watch in Griechenland. Der Halle-Prozess vor dem Oberlandesgericht Naumburg (in Magdeburg) wurde auf diese Weise medial noch einmal intensiver begleitet, in den sozialen Medien, mit Podcasts, Veranstaltungen und einer Dauerkundgebung vor dem Gebäude. Weil antifaschistische Beobachter*innen in München zahllose Besuchergruppen durch die Prozesstage begleitet haben, ist es für viele normaler geworden, sich das Geschehen in den Gerichtssälen bei solchen Prozessen selbst anzusehen. Für Betroffene bedeutet es viel, wenn sie dieses Interesse und die Solidarität von Besucher*innen im Saal wahrnehmen.

Gegenentwurf zum Münchener Prozess

Im Halle-Verfahren, das in gewisser Weise als Gegenentwurf zum NSU-Prozess betrachtet werden kann, hatte das Auswirkungen: Die Betroffenen wurden von der Vorsitzenden mit Respekt behandelt und nicht unterbrochen, die Nebenklage konnte die Ladung einiger wichtiger Sachverständiger durchsetzen. Die verschiedenen Betroffenengruppen in der Nebenklage fanden im Verlauf des Verfahrens von Juli bis Dezember 2020 zueinander und wurden von einer Welle von Solidarität in und vor dem Gerichtssaal getragen. Die Mitschriften der Prozessbeobachter*innen des Vereins Democ liegen bereits in Buchform vor und sind im Internet zu finden.

Trotz allem könnte die Vielzahl der Prozesse, die gelaufen sind, noch laufen oder demnächst beginnen werden, diesen praktischen Antifaschismus an seine Grenzen bringen. Und das würde nicht etwa etwas über eine Schwäche der Antifa aussagen, sondern etwas über das Ausmaß der gewaltvollen Verwahrlosung dieses Landes.

Friedrich Burschel ist Historiker und Politologe und arbeitete bis August als Referent zu Neonazismus und Strukturen/Ideologien der Ungleichwertigkeit bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS). Er hat den NSU-Prozess vor dem OLG München für die RLS, NSU-Watch und Radio Lotte Weimar beobachtet.

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