- Kultur
- Anwerbeabkommen
Nie mehr Gast sein
Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei wird 60 Jahre alt - es ist kein Grund zu feiern
Vor 60 Jahren, am 30. Oktober 1961 wurde das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei in Bad Godesberg unterzeichnet. Die boomende Wirtschaft brauchte Arbeitskräfte, die sie in der Türkei anwarb. Sie wurden in der BRD als »Gastarbeiter« bezeichnet. Ebenso die Menschen aus Italien, Griechenland, Spanien, Marokko, Südkorea, Portugal, Tunesien und Jugoslawien, mit denen die Bundesregierung zwischen 1955 und 1968 ähnliche Abkommen schloss. Heute leben in Deutschland 21,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. nd
I.
Denke ich an das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei, dann denke ich an ein Geschäft zwischen Managern und Kaufleuten. Weiter denke ich an die anonyme Hoffnung Millionen junger Menschen. Ich verbinde mit dem Abkommen einsame Körper. Auf den Fotos aus den 60er Jahren sehe ich Jugendliche ohne Eltern, deren Unterkünfte Baracken gleichen, die man »Wohnheim« und »Wohnung« nannte. Diese gehörten nicht selten den Unternehmern, für die die »Gastarbeiter« Körper mit zwei Armen und zwei Beinen waren. Nicht mehr. Ihr Dasein war einem einem nahezu mathematisch definierten Reglement unterworfen.
Ihre Körper hatten nur einen Zweck: ausgebeutet zu werden für den Wiederaufbau eines in Trümmern liegenden Landes, mit stummem Zwang und physikalischer Zweckmäßigkeit. Dass diese Körper berührt werden wollten, nach sozialer Geborgenheit, politischer Existenz, Sex, Sprache und Wissen dürsteten, aber eine Vielzahl von Bedürfnissen unterdrückt wurden, gerade das machte sie einsam. Das ist in die Gesichter meiner Großmütter und Großväter gezeichnet. Diese Einsamkeit war politisch - und sie war gewollt.
II.
Das Anwerbeabkommen ist kein Grund zum Feiern. Überhaupt denke ich selten in Jubiläen, bei denen sich die Herrschenden staatsmännisch die Hände schütteln und die Bürgerlichen Charaktermasken aufsetzen, die je nach Anlass Freude oder Trauer ausdrücken. Ich denke in Kämpfen. Von offiziellen Stellen wird das Anwerbeabkommen vom 30. Oktober 1961 als glückliche Vermählung inszeniert, sowohl in Berlin als auch in Ankara. Viele erdichten eine Erfolgsstory, einen sozialen Aufstieg über Generationen, zuletzt geschah das prominent mit den Biontech-Gründern, die durch den Patentschutz für einen von ihnen entwickelten lebensrettenden Impfstoff Milliardäre wurden.
Tatsächlich ist dies eine Geschichte von kapitalistischem Kalkül und Ausgrenzung, die noch nicht zu Ende ist, wie etwa in der Pflege, Logistik oder Saisonarbeit. Gierig begehren solche Wirtschaftssektoren die Ware Arbeitskraft, möglichst billig. Der Prozess der Verwertung treibt Migrationszwänge an, ob mit oder ohne Gesetzesbeschlüsse. Er lockt in die kapitalistischen Metropolen und fordert zur Abwanderung durch seine ökonomische und ökologische Verwüstung der Peripherien auf.
Die Geschichte der »Gastarbeiter« ist im Allgemeinen lange nicht zu Ende. Liberale verkaufen die dem Kapitalverhältnis immanenten Zwänge als Mobilität von Arbeit, verschweigen aber das Herausreißen von Menschen aus Lebenszusammenhängen und das Hineinwerfen von Arbeitskräften in ein System der Abschottung. In den bundesdeutschen Betrieben trennte die Geschäftsführung die billigen Arbeitskräfte aus der Türkei von den teuren heimischen. Darin zeigt sich die Raffinesse der Bürgerlichen noch heute - die Arbeitenden bereits im Produktionsprozess, nein: bereits bei der Ankunft, zu spalten. Die Klasse darf nicht Einheit werden, auch nicht kulturell. Das verbietet die Gewalt des Wertgesetzes. Den sozialen Preis, den der blinde Plan des Marktes kostet, zahlen die Betroffenen mit Isolation.
III.
Das Anwerbeabkommen hat mit mir, meiner Familie, meiner Klasse zu tun. Lange hatte ich das nicht gesehen. Für meine Generation, die dritte oder vierte, war der Traum unserer Eltern und Großeltern ausgeträumt, als wir in die Welt kamen. Im wiedervereinigten Deutschland geboren und aufgewachsen, waren wir jene, die eingeschüchtert, aber unerschrocken, die desillusioniert, aber unbeeindruckt, die nicht mehr ganz türkisch, aber schon ganz deutsch waren.
Erst das Studium der Geschichte gab mir eine Erklärung für die Zerrissenheit meiner Gedanken. Bis dahin machten sie mich sprachohnmächtig. Beides legte ich mir zurecht als Ergebnis gelungener »Integration«. Früher erzeugte dieses Wort in mir eine Scham, die meinen Körper züchtigte. Diese Scham verfolgte polizeiliche Strategien, um meine Herkunftsbedingungen zu verschütten. Heute jedoch erzeugt dieses Wort bei mir kalte Wut, weil es mich, meine Eltern, die Kinder und deren Eltern in dem Viertel, wo ich aufwuchs, zu Objekten sozialer Gewalt degradierte. Heute weiß ich: Es gibt Wörter, die dazu gemacht sind, soziale Wahrheit zu unterdrücken. »Integration« ist ein solches Wort.
IV.
Die 50er Jahre standen im Zeichen des Wiederaufbaus nach der selbst verschuldeten Barbarei von Faschismus und Krieg, die ein industrielles, kulturelles und menschliches Trümmerfeld hinterließ. Das milliardenschwere Kreditkapital aus dem Marshallplan, das den westdeutschen Wiederaufbau stimulierte, musste mit lebendiger Arbeit gemästet werden. Der Arbeitskräftemangel stärkte gewerkschaftliche Forderungen. Reallohnsteigerungen konnten vom Kapital nicht verhindert werden.
Diese Situation wurde durch den Mauerbau in Ostberlin im August 1961 verschärft, der den Zufluss neuer Arbeitskräfte aus dem Osten beendete. Die Adenauer-Regierung reagierte mit der Anwerbung türkischer Arbeiterinnen und Arbeiter, was auch im Interesse der Herrschenden in der Türkei war. Seit Jahrzehnten grassierte dort eine hohe Arbeitslosigkeit. Das Bevölkerungswachstum war höher als das Wirtschaftswachstum. Zudem litt die türkische Wirtschaft - wie heute - an einem anhaltenden Handelsbilanzdefizit.
Um den keimenden Protest im Inland zu ersticken, musste die arbeitslose Jugend ins Ausland geschickt werden. Das hatte den Vorteil, den sozialen Druck im Land zu dämpfen. Zugleich versprach das Abkommen Devisen. Schließlich war die Türkei ein Nato-Mitglied an der Südostflanke der damaligen Sowjetunion. Das Anwerbeabkommen war eine Win-Win-Situation für die deutsche wie türkische Bourgeoisie.
V.
Innerhalb eines Jahrzehnts endete diese fröhliche Geschichte. Der Streik bei den Kölner Fordwerken im August 1973, die erste Ölkrise und der Anwerbestopp durch das Kabinett Willy Brandt änderten die Lage radikal. Es folgten die zweite Ölkrise 1979/80, die Schwächung der Gewerkschaften durch die Regierung von Helmut Kohl ab 1982 und die Ausländerrechtsreform, insbesondere das Rückkehrhilfegesetz. Die 80er Jahre waren für die »Gastarbeiter« entscheidend: Gehen oder bleiben? Viele blieben, viele gingen - die Legende vom ewigen »Gast« wurde Lügen gestraft.
In diesen Jahren entschied sich mein Großvater zurückzukehren. Er hatte einen Bandscheibenvorfall und verlor den Job. Mein Vater jedoch blieb. Meine beiden Onkel, minderjährig, blieben auch, alle in derselben Wohnung zusammengepfercht, doch nun ohne den Vater. Dessen Rolle musste der älteste Bruder übernehmen, obwohl seine Frau und sein Sohn noch in der Türkei waren. Denn wegen Helmut Kohl musste meine Mutter sieben Jahren mit ihrem Kind in einem Dorf am Schwarzen Meer warten, allein und arm, von patriarchaler Männlichkeit umzingelt, bis sie zu ihrem Ehemann nach Deutschland kommen durfte. Einen Mann, den sie bis dahin einmal im Jahr sah. Ob er ihr Geliebter war oder ein Fremder wurde, das bleibt ihr Geheimnis. Verantwortlich für Fragen, die Beziehungen zerstören können, war Helmut Kohl.
VI.
Mit dem Mauerfall in Berlin wurden die sozialen Mauern in der wiedervereinigten Nation höher gezogen. Für migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter, für mich, bedeutet das: Duisburg-Wanheimerort, Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen, NSU-Mordserie und Hanau. Die deutsch-türkische Migrationsgeschichte ist gleichermaßen eine Geschichte von antirassistischem Emanzipationskampf und rassistischer Herrschaftspraxis. 60 Jahre sind keine Schande. Sie sind aber auch kein Grund für gespielten Stolz oder opportunistische Dankbarkeit. Sie markieren die Erfahrung, uns nicht von den Bürgerlichen in deutsch und nicht deutsch auseinanderdividieren zu lassen.
Unterdrückte leben vom Zwang, Körper und Arbeitskraft verkaufen zu müssen, um zu überleben. Ohne diese Einsicht bleiben Körper einsam, handlungsunfähig. In Verhältnissen, in denen die Profitrate die Begierde nach Freiheit instrumentalisiert, sind arbeitende Körper immer deutsch und zugleich Gäste in ihrem eigenen Leben. Sie haben eine Herkunft ohne Heimat. Nie mehr Gast sein. Das ist die Bürde meiner sozialen Herkunft.
Mesut Bayraktar ist ein Hamburger Schriftsteller, Jahrgang 1990. Er hat gerade im Autumnus-Verlag seinen neuen Roman »Wunsch der Verwüstlichen« veröffentlicht.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.