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Neuerscheinungen, annotiert: Nina Bouraoui, Carl Weissner / Jörg Fauser, Isabela Fugeiredo
Die Opferrolle hassen
»Ich heiße Sylvie Meyer. Ich bin dreiundfünfzig Jahre alt. Ich bin Mutter zweier Kinder. Ich lebe seit einem Jahr von meinem Mann getrennt. Ich arbeite bei Cagex, einem Gummiunternehmen. Ich bin für die Produktionskontrolle zuständig. Ich bin nicht vorbestraft«. So beginnt der Roman »Geiseln« von Nina Bouraoui, es ist eine Geschichte der Emanzipation von Kapitalismus, Paternalismus und Sexismus. Denn Sylvie Meyer hat einen Chef, der ihr gewaltig auf die Nerven geht. Er macht viele dumme Sprüche und verlangt von ihr, die anderen Arbeiterinnen zu überwachen und Listen zu erstellen, wer am ehesten entlassen werden könnte, denn der Firma geht es nicht gut. Und Sylvie Meyer auch immer weniger - und irgendwann geht es dem Chef nicht mehr gut. Sylvie agiert fatalistisch, doch das ändert ihr Leben, über das sie anfängt nachzudenken: »Ich will nicht als Opfer dastehen, das ist nicht mein Stil, ich hasse diese Opferrolle, sie ist passiv und ich bin, wie gesagt, eine starke Frau.« (a.d. Franz. v. Nathalie Rouanet, Elster Verlag, 125 S., geb. 19 €).
Zwei machen ihr Ding
Der Übersetzer und Schriftsteller Carl Weissner (1940-2012) setzte in der Bundesrepublik der 70er Jahre die krassen, lakonischen und stilbildenden Schriftsteller aus dem Kanon des US-Undergrounds durch. Er übersetzte unter anderem Charles Bukowski, William S. Burroughs und Nelson Algren. Der Schriftsteller und Journalist Jörg Fauser (1944-1987) wollte genauso so schreiben wie diese Autoren, ohne Schnörkel, aber mit vollem Einsatz, empathisch und dennoch wahrhaftig. Hat er öfters auch geschafft, gegen sehr viele Widerstände im Betrieb. Richtig anerkannt wurde seine literarische Arbeit erst nach seinem Tod. Bei Diogenes erscheint nun schon seine dritte Werksausgabe. In deren Rahmen gibt es nun auch einen Band mit einer Auswahl der Briefe, die sich Fauser und Weissner von 1971 bis 1987 regelmäßig schrieben: »Eine Freundschaft«, herausgegeben von Matthias Penzel und Stephan Porombka. Als Vorwort gibt es ein bemerkenswertes Gespräch der beiden Herausgeber. Penzel: »Detailarbeit an Texten: findet eigentlich nicht statt. Privates: komplette Fehlanzeige. Die politischen Entwicklungen: tauchen so gut wie gar nicht auf. Die Umgebung des Literaturbetriebs: in fragmentarischen Hinweisen, alles eigentlich nur in Stücken und Fetzen. Die großen Stories, die pointierten Anekdoten, die zeitgeistigen Reflexionen, die großen Schlaglichter, die sichtbar machen könnten, was hinter der Bühne passiert - das bleibt alles aus.« Porombka: »Man muss die Briefe anders lesen, um mitzukriegen, was Fauser und Weissner hier über die Jahre hinweg entwickeln. So eng, so freundschaftlich. Zum Teil so sehr in Not. Und über die ganze Zeit hinweg dann doch mit so wahnwitziger Energie in der Auseinandersetzung mit dem Literaturbetrieb. Die beiden machen ihr Ding.« Penzel: »Da sollte aber bitte jeder Buchstabe großgeschrieben sein: Die beiden machen IHR DING!« (Diogenes, 368 S., geb., 24 €).
Niemals Freunde haben
Maria Luísa ist jung, intelligent und eigensinnig. Und sie ist dick, wie man so sagt und wie auch dieser Roman von Isabela Fugeiredo heißt: »Die Dicke«. Nach einer Magenverkleinerung verliert sie 40 Kilo und fühlt sich sehr leicht. »›Mal sehen, ob ich zwanzig Kilometer wandern kann‹, sagte ich und ich schaffte es. Doch ich wurde nicht unbesiegbar«. Denn da ist immer noch das Denken. Und da sind ihre präsenten Eltern.»Mama hatte mich gelehrt, allein zu leben. Sie erklärte mir: ›Wir haben niemals Freunde. Die anderen sind immer nur vorübergehend da, aus unterschiedlichen Interessen. Hört das Interesse auf, verschwinden sie wieder.« Der Vater erzählt, wie er sich als junger Mann seine halbe Hand in einer in einer Druckerei abgesäbelt hat, es sei wie »ein Raubüberfall« gewesen:. »Wenn wir es begreifen, ist es schon zu spät«. Wie so oft im Leben, egal, ob dünn, dick, mittel oder egal (A. d. Portug. v. Marianne Gareis. Weidle, 276 S., brosch., 24 €).
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