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»Mit einem Generalverdacht kommen wir nicht weiter«
Der Duisburger Pädagoge Burak Yilmaz engagiert sich gegen Antisemitismus, unter anderem besucht er mit muslimischen Jugendlichen die Gedenkstätte Auschwitz
Burak Yilmaz, Ihr Buch »Ehrensache. Kämpfen gegen Judenhass« beschäftigt sich mit dem Thema Antisemitismus. Ist dieser unter jungen Muslimen besonders stark verbreitet?
Yilmaz: Antisemitismus gibt es natürlich auch unter Muslimen. Vor allem die sozialen Medien haben in den letzten Jahren dabei eine große Rolle gespielt. Wie weit er verbreitet ist, dazu gibt es keine genauen Daten, doch in der beruflichen Praxis begegnet er mir häufig. Auf der anderen Seite wächst aber innerhalb der muslimischen Community auch das Engagement gegen Antisemitismus. Viele haben begriffen, dass der Kampf gegen Rassismus den Kampf gegen Antisemitismus einschließen muss.
Burak Yilmaz arbeitet als Pädagoge in Schulen und Gefängnissen. Für sein Engagement gegen Antisemitismus erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Sein Buch »Ehrensache. Kämpfen gegen Judenhass« erschien 2021 im Suhrkamp Verlag. Es hat 234 Seiten und kostet 16,95 Euro.
Handelt es sich um ein Klischee, um eine zu simple Zuschreibung?
Die antisemitischen Demonstrationen etwa im Ruhrgebiet haben gezeigt, dass das eine Realität ist, die jüdische Menschen bedroht. Auch in Zukunft rechne ich mit solchen gewaltbereiten Protesten. Judenhass ist aber kein rein muslimisches Problem. Mit einem Generalverdacht kommen wir nicht weiter. Und wir müssen auch darüber diskutieren, welche Rolle die Politik beim Ausbau islamistischer und nationalistischer Netzwerke gespielt hat. Es ist skandalös, dass man wie in Duisburg bei der Extremismusprävention mit türkischen Nationalisten kooperiert. Damit muss endlich Schluss sein.
Entlastet sich die Mehrheitsgesellschaft von ihren eigenen Ressentiments? Manche sprechen ja gar von »importiertem Antisemitismus« ...
Diese Entlastung erlebe ich sehr oft. Wie man ausgerechnet in Deutschland sich vom Judenhass entlasten möchte, bleibt mir ein Rätsel. Dabei zeigen Studien, dass 15 bis 20 Prozent unserer Gesellschaft zu antisemitischen Einstellungen neigen. Es kann nicht sein, dass sich Menschen aufgrund ihrer Herkunft so bedroht fühlen, dass sie diese verheimlichen. Wir tragen alle eine Verantwortung, wenn es darum geht, mehr Sichtbarkeit und Teilhabe für Jüdinnen und Juden zu schaffen, jenseits klischeehafter Vorstellungen.
Sie selbst haben türkische Wurzeln. Ihr Buch ist autobiografisch geprägt, es enthält viele persönliche Erfahrungen. Was interessiert Sie so sehr am Thema?
Geschichte und Politik haben mich schon immer interessiert. Wenn man wie ich in Duisburg-Obermarxloh in einer türkisch-kurdischen Familie aufwächst und mitbekommt, wie viel leichter es deutsche Freunde haben, dann betrachtet man diese Gesellschaft mit anderen Augen. »Warum behandeln die uns so ungerecht?«, war vielleicht die häufigste Frage in meiner Kindheit. Als ich dann in der sechsten Klasse auch noch vom Holocaust erfahren habe, wurde mir richtig schlecht. Mich verängstigt, dass so etwas in Deutschland passieren konnte. Ich will nicht nur die Geschichte verstehen, sondern auch erkennen, welche Schatten der Vergangenheit bis heute reichen.
Sie sprechen von der eigenen Familiengeschichte als »Ressource«. Was heißt das?
Fast jede deutsche Familie war in den Nationalsozialismus verstrickt. Ich erlebe es oft bei deutschen Jugendlichen, dass sie sich dafür schämen, aber auch relativ gleichgültig sagen: »Das hat doch nichts mit mir zu tun!« Mit Ressource meine ich, dass Menschen nach dieser familienbiografischen Selbstreflexion ein anderes Selbstbewusstsein haben. Sie finden Worte für das Schweigen in der Familie, für ihre Scham, und begreifen ihre Verantwortung. Darin liegt ein großes Potenzial, denn durch diese Aufarbeitung wird unsere Demokratie gestärkt.
Sie berichten von Ihrer Arbeit in einem Jugendzentrum, zitieren Besucher mit dem Satz »Wir sind Antisemiten, daran kannst du nichts ändern!« Was haben Sie geantwortet?
Ich habe sie gepackt und rausgeschmissen, weil sie den Hitlergruß gezeigt haben. Danach gab es drei Monate Hausverbot. Aber ich wollte ran an diese antisemitischen Denkmuster und ihr Verhalten. Ich habe sie gefragt, woher ihre Vorurteile und ihre Verachtung kommen, und habe betont, dass sie damit im Jugendzentrum keine Chance haben. So entwickelten sich biografische Gespräche über Erziehung und Kindheit. Es stellte sich heraus, dass sie aus islamistischen Familien kamen, in denen Judenhass Teil ihrer Erziehung und Ideologisierung war.
Sie reisen mit jungen Muslimen nach Polen, zur Gedenkstätte des Konzentrationslagers Auschwitz. Welche Eindrücke nehmen die Gruppen mit? Was lernen Sie dort?
Die Eindrücke der Jugendlichen sind sehr unterschiedlich. Viele sind sprachlos über das Ausmaß der Gewalt, den Vernichtungswillen der Nazis und das Leben im Lager. Anhand persönlicher Geschichten wird dieser Ort greifbarer. Einmal trafen wir dort eine israelische Jugendgruppe, und einer unserer Teilnehmer sagte später: »Ich hatte Empathie mit meinen Feinden.« In seinem Freundeskreis dagegen wurde er wegen der Fahrt nach Auschwitz angegriffen.
Was haben die Kinder oder Enkel von Zugewanderten mit der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun?
Unsere Großeltern haben mitgeholfen, Deutschland wiederaufzubauen. Nicht wenige von ihnen waren sogar in jenen Industriebetrieben beschäftigt, die während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeiter aus dem Osten einsetzten. Ich frage mich heute, ob meine Großeltern nach Deutschland gekommen wären, wenn sie all das vorher gewusst hätten. Aber sie hatten nur sehr geringe Kenntnisse über den Nationalsozialismus.
Die Nazis pflegten enge Kontakte zur arabischen Welt, etwa zum Mufti von Jerusalem. Und den türkischen Umgang mit den Armeniern hat der Bundestag als Völkermord eingestuft ...
Rassismus und Antisemitismus sind ein globales Phänomen. Es existiert auf allen Ebenen unserer Gesellschaft. Auch Minderheiten, die Rassismus erleben, können rassistisch oder antisemitisch sein. Sie haben aber nicht dieselben Ressourcen und Möglichkeiten wie die Mehrheitsgesellschaft, um einen Wandel einzuleiten. Es ist mir trotzdem wichtig zu betonen, dass das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Wenn wir die Verantwortung immer auf die anderen schieben, wird sich unsere Gesellschaft spalten. Der Kampf gegen Judenhass und Rassismus beginnt im eigenen Kopf. Egal, ob ich Stefan oder Fatma heiße.
Fördert der Konflikt zwischen Israel und Palästina den Antisemitismus in der muslimischen Community?
Nein, er offenbart ihn eher. Viele sagen »Israel ist schuld am Judenhass«, aber Judenhass ist der Grund dafür, dass es Israel gibt. Der israelbezogene Antisemitismus war gerade bei den letzten Demonstrationen im Juni dieses Jahres erschreckend radikal. Tagelang wurde vorher in digitalen Netzwerken wie TikTok und Instagram Stimmung gemacht. Unter dem Vorwand der Solidarität mit den Palästinensern wurde das Ganze instrumentalisiert, um seinen eigenen Hass auf Juden und Israel loszuwerden. Wenn islamistische Schlachtrufe mit einem antisemitischen Vernichtungswunsch gebrüllt werden, dann hat das nichts mehr mit Kritik oder Solidarität zu tun. Mit Jugendlichen differenziert über den Nahostkonflikt zu sprechen und ihnen Widersprüche aufzuzeigen, ist ein Weg, um diesen Hass zu bekämpfen.
Wenn Sie in die Zukunft schauen: Glauben Sie, dass sich die antisemitischen Vorurteile in den folgenden Generationen mit Migrationshintergrund abschwächen werden?
Ja! Ich erhalte dauernd Mails von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich professionalisieren wollen und das Thema Judenhass auf ihre Tagesordnung packen. Auch der Austausch mit der jüdischen Community wächst, und vor allem an den Schulen spüre ich, dass sich junge Menschen einmischen wollen und Zivilcourage zeigen. Vor zehn Jahren war mein Projekt »Junge Muslime in Auschwitz« noch bundesweit einmalig, inzwischen gibt es immer mehr solche Initiativen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass im Kampf gegen Judenhass die gesamte nichtjüdische Mehrheit in unserem Land in der Verantwortung steht.
Am Ende des Buches plädieren Sie dafür, offen zu sein für die »Menschen der anderen Seite«. Was meinen Sie damit?
Ich erinnere mich an einen Vortrag in Israel über meine Arbeit. Neben den deutschen Gästen saßen dort jüdische und arabische Israelis. Ich fühlte mich sehr angespannt, es war ein Drahtseilakt. Ich habe dafür plädiert, dass es mehr Perspektivwechsel braucht. Wir müssen uns öffnen für die Geschichten anderer, ihre Lebenswelten verstehen. Wir brauchen immer wieder gemeinsame Gespräche und Strategien, wie wir an einer besseren und gerechteren Zukunft arbeiten können. Ich will nicht, dass die Trennlinie in unserer Gesellschaft zwischen der Mehrheit und den Minderheiten verläuft, sondern zwischen denen, die für Demokratie einstehen und denen, die sie bekämpfen.
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